Verletztes Vertrauen heilen

Ein fünfjähriger Junge wird von seiner Mutter beiseite genommen. Ich sitze auf einer Bank am Rand des Spielplatzes, während unser Sohn im Sandkasten spielt und Baggergeräusche von sich gibt. Ich sehe, wie die Mutter in die Hocke gegangen ist, ihren Sohn mit einem festen Griff durch die Winterjacke hindurch am Arm festhält und mit ermahnender Stimme zu ihm sagt: «Jonas, entschuldige dich! Hörst du!?»

Jonas hatte kurz vorher ein anderes Kind geschubst, nachdem dieses ihm nicht die gewünschte Schaufel zur Verfügung gestellt hatte. Der Konflikt wurde fachmännisch von den Müttern unterbrochen, und nun folgt eben jene Versöhnung, die ich eingangs zu beschreiben begonnen habe. Jonas streckt seine Hand ganz widerwillig aus, dreht das Gesicht leicht ab und murmelt «Entschuldigung». Anschließend löst sich das Schauspiel rasch auf, und ich warte auf neue Konflikte, die sich anbahnen.

Sich zu entschuldigen gehört zum guten Ton

Doch was ist eine Entschuldigung wert, wenn sie nicht ernst gemeint ist? Und inwieweit ist Jonas in der oben beschriebenen Situation nicht nur ein Täter, sondern auch das Opfer einer umstrittenen Praxis? Zweifelsohne würden wir sagen, dass es eine Entschuldigung benötigt, damit eine Beziehung wiederhergestellt werden kann. Wir sprechen dann von Versöhnung, die jedoch unabhängig von einer Entschuldigung erfolgen kann.

Die Vergebung

Vermutlich löst dieser Gedanke in uns eine gewisse Abwehrhaltung aus, denn wir verknüpfen mit der Vergebung auch eine Bewertung der Schuld. Wenn ich also vergebe, heiße ich möglicherweise die Schuld des anderen gut. Und das versuchen wir in der Regel zu vermeiden! Doch genau hier würde ich gerne einhaken. Wikipedia definiert den Begriff der Vergebung ganz treffend, finde ich: «Vergebung ist der Verzicht einer Person, die sich als Opfer empfindet, auf den Schuldvorwurf.» Hier wird nicht davon gesprochen, dass die Schuld nicht der Rede wert oder gar nicht vorhanden sei. Es geht lediglich um die Entscheidung, sie dem anderen nicht mehr vorzuwerfen. Ich lege meinen Anspruch auf Rache ab bzw. entbinde mich auch der Verantwortung, selbst für Gerechtigkeit zu sorge

Die Brotschneidemaschine

Stellen Sie sich vor, Sie haben sich an der Brotschneidemaschine geschnitten – ganz unabhängig davon, ob Sie eine besitzen oder nicht. Ihr Finger blutet, und Sie ärgern sich über dieses Gerät. Ein Freund, der die Szene beobachtet hat, kommt bereits mit einem Pflaster und einem Desinfektionsmittel angerannt, um die Wunde zu versorgen, doch Sie lehnen dankend ab: «Erst muss sich die Brotschneidemaschine entschuldigen! Ich bin nicht bereit, diese Wunde vorher zu versorgen. » Was auf den ersten Blick absurd klingt, scheint mir ganz oft doch Realität: Wir legen die Verantwortung unserer Heilung in die Hand dessen, der uns verletzt hat.

Echte Versöhnung

Und was hat das Ganze jetzt mit unserem eingangs vorgestellten Jonas zu tun? Nun, ich denke, dass echte Versöhnung nur dort stattfinden kann, wo Entschuldigungen ernst gemeint sind. Aber darüber hinaus müssen wir uns eingestehen, dass Versöhnung auch Zeit braucht – Zeit, die wir uns ganz oft nicht nehmen wollen.

Persönlich

Vor etlichen Jahren – ich studierte damals noch – wurde ich von einer Person emotional sehr verletzt. Ich hatte das Empfinden, dass sie mit blanker Absicht hinter meinem Rücken eine Intrige geschmiedet und mich absichtlich umgangen hatte. Ich war zutiefst getroffen und habe diese Verletzung viele Jahre nicht behandeln lassen, weil ich nicht bereit war, der Person zu vergeben. Im Nachtragen der gespürten Schuld habe ich nichts und niemanden an meine Wunde gelassen. Ich habe die Zeit nicht aufgebracht, um mich einem klärenden Gespräch zu stellen, und darum gaukelte ich mir eine ganze Zeit lang vor, dass ich bereits vergeben hätte. Doch merkte ich an so mancher Stelle, dass ich nach wie vor verletzt war. Vor etwa zwei Jahren begegneten wir uns dann bei einer Veranstaltung. Es waren keine Eltern vorhanden, die uns am Arm packten und uns gegenüberstellten, damit wir einander vergeben. Und doch war da etwas Mut in mir, der mich zu ihr schob. Mein Herz schlug schneller, und ich erkannte, dass nun der Moment gekommen war, ihr gegenüberzutreten. In langsamen und vorsichtigen Schritten näherte ich mich heran und kam ohne lange Umschweife zu den magischen Worten, die so lange gar nicht abrufbar schienen, doch jetzt fast automatisch über meine Lippen kamen: «Du hast mich verletzt. Doch ich möchte dir vergeben. » Die Person war irritiert und doch wusste auch sie, wovon ich redete. Wir besprachen die damalige Situation und ich erkannte, dass sie sich ganz anders darstellte, als ich so lange geglaubt hatte. Und am Ende bat auch ich um Vergebung, weil ich in dieser Lage nicht nur Opfer war.

Meine Entscheidung

Dieser Augenblick heilte vieles in mir und lässt mich zu dieser Schlussfolgerung kommen: Heilung beginnt bei mir. Wir selbst sind es, die uns die Erlaubnis zur Heilung erteilen müssen – das tut niemand anderer für uns. Keine Brotmaschine und auch sonst niemand. Gleichzeitig haben wir auch weiter oben schon gelernt, dass Heilung im Grunde nichts damit zu tun hat, Schuld gutzuheißen. Wir dürfen Vergebung und unsere Heilung ganz bewusst davon trennen, ob das Verhalten des anderen richtig oder falsch war. Vergebung bedeutet außerdem, mir einzugestehen, dass ich verletzt worden bin oder jemanden verletzt habe. Ich mag Menschen wie Jonasʼ Mama, die uns dazu auffordern, uns zu entschuldigen. Ich wünsche mir jedoch auch, dass wir einander nicht nur zur äußerlichen Entschuldigung drängen, sondern uns auch helfen, uns aufrichtig zu entschuldigen und auch ein «Entschuldigung angenommen » ganz ehrlich und aus tiefem Herzen aussprechen können.

Sind da noch Wunden?

Möglicherweise sind da bei Ihnen noch Wunden, die noch nicht verheilt sind. Oder es wird Sie schon bald eine neue Verletzung ereilen – und verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass dieser Moment kommen wird. Wenn das dann eintritt, dann definieren Sie die Verletzung: Was genau hat mich verletzt? Wo bin ich verletzt worden? Stellen Sie sich die Frage, ob Sie ein Interesse daran haben, von dieser Verletzung geheilt zu werden. Und sollte dies der Fall sein, entscheiden Sie sich, dem anderen vergeben zu wollen. Auch wenn der andere gar kein Interesse an einer Entschuldigung hat! Machen Sie Ihr Heilwerden nicht von der Reaktion des anderen abhängig!

Keine falschen Versprechungen

Marie von Ebner-Eschenbach sagte einmal: «Vertrauen ist Mut, und Treue ist Kraft». Ich will Ihnen keine falschen Versprechungen machen: Einem anderen zu vergeben und ihm gar wieder zu vertrauen, ist nicht einfach, doch Vertrauen ist die Grundlage unserer Beziehungen. Ohne Vertrauen scheitern wir aneinander. Und im Fall einer Brotmaschine muss Brot dann mühsam von Hand geschnitten werden. Es braucht den Mut und das Wagnis, einen Schritt auf den anderen zuzugehen. Dabei gilt es zu differenzieren und auch Grenzen zu setzen: Jemandem, der gewillt ist, mich immer wieder zu verletzen, sollte kein Schlüssel zu meinem Herzen gegeben werden. Doch muss in diesem Fall einmal mehr die Sorge um meine eigene Heilung, ganz unabhängig von der Schuld des anderen, im Vordergrund stehen. Wunden können heilen. Und auch wenn unsere Beziehungen nicht immer heil werden, so sehe und erlebe ich doch an vielen Stellen, dass verletztes Vertrauen wiederhergestellt wird und auch Beziehungen genesen. Ich spreche übrigens auch wieder mit meiner Brotschneidemaschine. Wir nähern uns wieder an – Scheibe um Scheibe.

Ben Bornowski

Pastor mit Schwerpunkt Jugendarbeit

Leben & Gesundheit Ausgabe 2/2021