Kontrolle ist gut, Vertrauen ist menschlicher

Mit diesen Worten konterkariert Gerald Dunkl, ein österreichischer Psychologe und Aphoristiker, einen oft zitierten Satz, den man Lenin zuschreibt: «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. » Wer von beiden hat Recht?

Ich meine: Lenin, der leider durchaus zur Unterdrückung menschlicher Regungen und gerade deshalb zur Unterdrückung anderer Menschen fähig war, hat übersehen, wie sehr das Vertrauen ein menschlicher Zug ist. Etwas, was uns im positiven Sinn des Wortes «menschlich» macht.

Vertrauen ist Leben, Leben ist Vertrauen

Der Duden definiert «Vertrauen» als «festes Überzeugt sein von der Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit einer Person oder Sache». Vor diesem Hintergrund: Ist Ihnen eigentlich bewusst, wie sehr wir in unserem Alltag vertrauen, ja oft geradezu blind vertrauen, und wie sehr unser Leben, uns vielfach unbewusst, «auf Vertrauen gebaut» ist?

Als Arzt staune ich immer wieder, wie sehr und wie selbstverständlich Patienten uns vertrauen, vor allem bei Operationen. Sie lassen sich dabei narkotisieren, was bedeutet, dass sie völlig die Kontrolle über ihr Leben verlieren und in die Hände anderer Menschen geben. Ohne zu wissen, ob sie je wieder aufwachen werden, ohne irgendetwas beeinflussen zu können, lassen sie jemanden an sich «herumschneiden». Sie vertrauen. Zu Recht, weil die Komplikationsrate an unserer Abteilung (und generell) unter 0,5 Prozent liegt. Oder zu Unrecht, weil der, den die Komplikation trifft, dann zu 100 Prozent betroffen ist.

Hin und zurück lege ich auf meinem Arbeitsweg täglich etwa 80 Kilometer mit der Eisenbahn zurück. Dabei vertraue ich, ohne mir darüber Gedanken zu machen, darauf, dass der Lokführer kein Signal übersieht und die Geschwindigkeitsvorgaben einhält, dass die Bahnzentrale alle Weichen richtig stellt und den Zug so leitet, dass er mit keinem anderen zusammenstößt. Kurzum, dass man mich sicher und pünktlich an das richtige Ziel bringt. Mein Vertrauen ist so groß, dass ich beruhigt schlafen oder lesen kann. Zu Recht, weil zum Beispiel in Deutschland zwischen 2005 und 2009 von 2249 Milliarden beförderten Personen nur 599 von einem Eisenbahnunglück betroffen waren, das sind 0,0000000266 Prozent. Oder zu Unrecht, weil drei der 599 eben tot waren.

Im Straßenverkehr gilt der «Vertrauensgrundsatz». Ich darf als Autofahrer darauf vertrauen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer die Regeln kennen und beachten. Deshalb fahre ich, und fahren wohl auch Sie Auto, ohne dabei ständig Angst zu haben. Zu Recht, weil (ich verwende wieder obige Statistik) von 54293 Milliarden per Auto beförderter Personen nur 237189 nicht sicher ankamen. Oder zu Unrecht, weil man eben auch zu den 2524 tödlich Verunglückten gehört haben könnte.

Vor mehr als einem Jahr habe ich in meinem Haus eine neue Heizung installieren lassen. Nach viel Information über die verschiedenen Möglichkeiten (jede Firma hat naturgemäß ihr Produkt als das beste angepriesen) habe ich mich nach langem Überlegen für eine Luftwärmepumpe entschieden. Auch dabei musste ich vertrauen: Den Angaben der Hersteller, der Lieferfirma, dem Heizungsmonteur. Zu Recht, denn ich bin mit der Anlage sehr zufrieden. Aber auch ein wenig zu Unrecht, denn eine der Außenanlagen wurde nicht ganz auf dem richtigen Platz aufgestellt und musste nachträglich versetzt werden.

Wir lernen aus diesen Beispielen dreierlei:

  • Erstens: Wir vertrauen in unserem Alltag fast unentwegt. Wir vertrauen eigentlich mehr, als wir misstrauen.
  • Zweitens: Wir tun gut daran, denn überwiegend wird unser Vertrauen nicht enttäuscht.
  • Drittens: Es kann leider auch schiefgehen.

„Na und …?“

… frage ich mich jetzt. Was sollen wir jetzt damit anfangen? Was haben die Leser von dieser einigermaßen banalen Aufzählung von Fakten? Ich sehe drei mögliche Schlussfolgerungen für mein (auch für Ihr?) Leben.

1. „Zweifel sind Warnsignale bei einem unkritischen Vertrauen.“ ( Otto Baumgartner)

Ich finde diese Formulierung sehr treffend. Wir sollten kritisch vertrauen. Wir haben nämlich einen Verstand. Gebrauchen wir ihn!

Das schützt vor einer Erfahrung, wie sie (am 23.12.2016) in meiner Tageszeitung zu lesen war: Eine 72-jährige Rentnerin aus Österreich lernte in einem Internet-Chat einen angeblich 68-jährigen Mann aus Liverpool kennen. Die beiden intensivierten ihren Online-Kontakt. Eines Tages erklärte der Mann, er werde in Lagos (Nigeria) eine U-Bahn bauen. Material und Werkzeug dafür seien in einem Lager, für das er Gebühren, Steuern und Zoll zahlen müsse. Er bat die Frau um finanzielle Hilfe. Und die überwies ihm mehrere zehntausend Euro auf ein Konto einer nigerianischen Bank … Klar: Von diesem Geld hat sie genauso wenig gesehen wie Lagos je von seiner U-Bahn.

Verbinden wir also Vertrauen mit Verstand! Kritisches Vertrauen ist immer noch Vertrauen und kein Misstrauen.

2. „Die Leichtigkeit lebt davon, dass wir dem Leben vertrauen.“ (Helga Schäferling)

Die vergangenen Vorweihnachtstage wurden durch den grausigen Anschlag in Berlin erschüttert. Ein Islamist steuerte einen Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt. Dieses Attentat ist das (zurzeit) letzte von vielen. Paris, Brüssel, Nizza …

Mich beschäftigt die Tatsache, dass das etwas mit mir macht. Die Terrorwelle geht nicht spurlos an meinem Vertrauen vorüber. Meine Frau und ich sind Frankreich-Liebhaber. In den letzten vier Jahren waren wir mehrmals dort. Aber nach Paris will ich bis auf weiteres nicht. Und nicht nur das! Bei meinem letzten Besuch in Wien ertappte ich mich in der U-Bahn mehrmals beim Gedanken: Und was ist, wenn da auch so ein Islamist mitfährt? Sollte man große Menschenansammlungen nicht generell meiden?

Merken Sie, wie da ein Stück Leichtigkeit des Lebens verloren zu gehen droht? Und damit ein Stück Freiheit, ein Stück Lebensqualität? Wir sollten das nicht zulassen, wir sollten vertrauen! Ich möchte Ihnen auch gerne verraten, wie ich persönlich diesem Vertrauens- und Leichtigkeitsverlust begegne. Durch mein Vertrauen in Gott, dem ich zutraue, dass Er letztlich mein Leben in der Hand hat und bestimmt … Dies gibt mir Sicherheit.

3. „Unser Vertrauen rechtfertigen kann nur jemand, dem wir bereits unser Vertrauen geschenkt haben.“ (Ernst Ferstl)

Und es gibt noch etwas, was Terror- und Flüchtlingswelle mit mir gemacht haben. Da sehe ich eine Gruppe von Afghanen morgens im Zug und denke dabei sofort: «Achtung!» Ich begegne im Bus Richtung Faakersee, wo ich wohne, zwei jungen Irakern. Und ich frage mich, ob die vielleicht auch potentielle «Schläfer» sind. Meine Frau habe ich gebeten, beim Jogging rund um den See vorsichtig zu sein und einen Pfefferspray mitzunehmen. Und wenn ich auf dem Hauptplatz in Villach einen bärtigen Muslim und neben ihm seine teilverschleierte Frau sehe, kommt mir der Gedanke: «Früher (das heißt, ohne diese Leute) war es hier eigentlich sicherer und schöner …»

Mich beunruhigt, wie sehr ich mich hier vom Misstrauen anstecken lasse und wie schnell aus fehlendem Vertrauen Vorurteile werden. Eigentlich möchte ich so nicht denken. Denn Misstrauen wächst, wenn man ihm Raum gibt und betrifft dann eines Tages vielleicht nicht mehr «nur» Flüchtlinge, sondern auch andere Menschen, die mir im Alltag begegnen, in der Arbeit, in der Familie … Am Ende stehen «Menschenfeinde», und zu ihnen will ich nicht gehören …

«Verliere nicht das Vertrauen, auch wenn du manchmal enttäuscht wirst. » (Ebo Rau)

Es stimmt schon, was in der Überschrift zu lesen war: Vertrauen ist der menschlichere Weg.

Dr. Karl-Heinz Oberwinkler

Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe

Leben & Gesundheit Ausgabe 2/2017