Gut gebunden? Durch Vertrauen geborgen!

Wer kennt nicht das Aufwallen von Wut, Kummer und starken Emotionen bei eigentlich „kleinen Dingen“? Die Bindungstheorie beschert uns einige spannende Antworten in Bezug auf den Ursprung vieler wundersamer Aspekte unserer emotionalen Welt.

Hintergrund

Der Duden definiert «Vertrauen» als «festes Überzeugt sein von der Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit einer Person oder Sache». Vor diesem Hintergrund: Ist Ihnen eigentlich bewusst, wie sehr wir in unserem Alltag vertrauen, ja oft geradezu blind vertrauen, und wie sehr unser Leben, uns vielfach unbewusst, «auf Vertrauen gebaut» ist?

Als Arzt staune ich immer wieder, wie sehr und wie selbstverständlich Patienten uns vertrauen, vor allem bei Operationen. Sie lassen sich dabei narkotisieren, was bedeutet, dass sie völlig die Kontrolle über ihr Leben verlieren und in die Hände anderer Menschen geben. Ohne zu wissen, ob sie je wieder aufwachen werden, ohne irgendetwas beeinflussen zu können, lassen sie jemanden an sich «herumschneiden». Sie vertrauen. Zu Recht, weil die Komplikationsrate an unserer Abteilung (und generell) unter 0,5 Prozent liegt. Oder zu Unrecht, weil der, den die Komplikation trifft, dann zu 100 Prozent betroffen ist.

Hin und zurück lege ich auf meinem Arbeitsweg täglich etwa 80 Kilometer mit der Eisenbahn zurück. Dabei vertraue ich, ohne mir darüber Gedanken zu machen, darauf, dass der Lokführer kein Signal übersieht und die Geschwindigkeitsvorgaben einhält, dass die Bahnzentrale alle Weichen richtig stellt und den Zug so leitet, dass er mit keinem anderen zusammenstößt. Kurzum, dass man mich sicher und pünktlich an das richtige Ziel bringt. Mein Vertrauen ist so groß, dass ich beruhigt schlafen oder lesen kann. Zu Recht, weil zum Beispiel in Deutschland zwischen 2005 und 2009 von 2249 Milliarden beförderten Personen nur 599 von einem Eisenbahnunglück betroffen waren, das sind 0,0000000266 Prozent. Oder zu Unrecht, weil drei der 599 eben tot waren.

Im Straßenverkehr gilt der «Vertrauensgrundsatz». Ich darf als Autofahrer darauf vertrauen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer die Regeln kennen und beachten. Deshalb fahre ich, und fahren wohl auch Sie Auto, ohne dabei ständig Angst zu haben. Zu Recht, weil (ich verwende wieder obige Statistik) von 54293 Milliarden per Auto beförderter Personen nur 237189 nicht sicher ankamen. Oder zu Unrecht, weil man eben auch zu den 2524 tödlich Verunglückten gehört haben könnte.

Vor mehr als einem Jahr habe ich in meinem Haus eine neue Heizung installieren lassen. Nach viel Information über die verschiedenen Möglichkeiten (jede Firma hat naturgemäß ihr Produkt als das beste angepriesen) habe ich mich nach langem Überlegen für eine Luftwärmepumpe entschieden. Auch dabei musste ich vertrauen: Den Angaben der Hersteller, der Lieferfirma, dem Heizungsmonteur. Zu Recht, denn ich bin mit der Anlage sehr zufrieden. Aber auch ein wenig zu Unrecht, denn eine der Außenanlagen wurde nicht ganz auf dem richtigen Platz aufgestellt und musste nachträglich versetzt werden.

Definition von Bindung

„Bindung ist die Fähigkeit des Menschen … eine anhaltende Zusammenarbeit sowie endlose Konflikte mit anderen einzugehen; dies macht den Menschen zu dem, was er ist. All diese Prozesse haben ihren Ursprung in den ersten drei Lebensjahren“, erklärte der Mitbegründer der Bindungstheorie John Bowlby 1982.

Bereits Neugeborene sind in der Lage, ihre Bezugspersonen zu erkennen und von ihnen Dinge zu verlangen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Sie machen unterschiedliche Erfahrungen, prägen sich diese ein und bilden entsprechende Erwartungen bezüglich künftiger Interaktionen. Für das Kind sind dies emotional tief prägende Momente.

Sprache, Gedächtnis, Einfühlungsgabe und Sozialverhalten werden von solchen Bindungserfahrungen stark beeinflusst. Die entstehende Bindung ist derart stark, dass sich eine Veränderung der anatomischen Gehirnstruktur nachweisen lässt, die lebenslange Auswirkungen auf die Gehirnfunktion haben kann!

Rolle der Mutter

„Unsere Beziehungen“ beginnen bereits im Mutterleib. Die Eltern sind in gespannter Erwartung und versuchen, baldmöglichst Kontakt mit dem Ungeborenen aufzunehmen. Sie sprechen mit ihm, singen, kneten sanft Mamas Bauch und machen sich für den großen Augenblick der Geburt bereit.

Eine besondere Rolle im sogenannten „Bonding“ – also der Verbindung von Mutter und Kind – spielen die ersten Lebensstunden. Ein Baby, welches an die Brust gelegt wird, kann bereits den Herzschlag der Mutter hören, schon über kurze Distanz hinweg sehen und vertraute Formen im Gedächtnis abspeichern. Sowohl Freude in der Stimme der Eltern als auch Angespanntheit werden wahrgenommen, Berührungen signalisiert und selbst das Trinken des Kolostrums an der Mutterbrust vermittelt nahezu den identischen Geschmack der Flüssigkeit der Gebärmutter (Amnion). Ein ideales Bonding entspringt einem frohen, entspannten und von Liebe geprägten Start ins Leben. Sollten die Umstände weiterhin ideal bleiben, kann und wird das Kind einen SICHEREN Bindungstyp entwickeln.

Rolle des Vaters

Auch der Vater leistet einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des Bindungsverhaltens. Im Optimalfall ist er ein sensibler Spielkamerad und unterstützt das Kind bei der Erforschung der Umgebung. Beispielsweise hilft er dem Nachwuchs beim Klettern auf Bäume oder beim Erkunden von Höhlen. Er ermutigt das Kind durch sein Vorbild zu praktischer und nützlicher Arbeit. Dadurch fördert er die Selbstständigkeit des Kindes und zeigt ihm, dass enge Bindungen, die das Kennenlernen der Außenwelt mit einbeziehen, möglich sind.

Vielen Vätern fehlt es jedoch am nötigen Gespür. Häufig nehmen sie sich zu wenig Zeit, um ihren Nachwuchs wirklich gut kennenzulernen. Ihnen gelingt es daher nur selten, angemessen auf das Kind einzugehen und auf diese Weise die nötige Balance zwischen Herausforderung und Unterstützung zu schaffen. Werden die Kinder von ihrem Vater nicht genügend unterstützt, wird ein Kreislauf aus Angst und Unsicherheit in Gang gesetzt oder gar verstärkt.

Generell geht eine ideale Bindung mit der Erfahrung von vertrauensvollen Beziehungen Hand in Hand. Dies hilft dem Kind, Vater und Mutter und später das gesamte Umfeld als verlässlich, sorgend und in schweren Zeiten als Trost-Quelle zu erleben und nicht als einen Ort der Ablehnung und des Schmerzes. Auch führt es zur Fähigkeit, Mitgefühl zu entwickeln und eigene ungute Gefühle zu steuern – es ergeben sich gesunde, liebevolle Freundschaften mit anderen und sich selbst. Hier entsteht ein gesundes Selbstvertrauen. Auch ist die Toleranz gegenüber Kritik und Auseinandersetzungen deutlich höher, ohne dass mit übermäßiger Emotion oder Angst reagiert werden muss.

Unsichere Bindungsmuster

Leider sind jedoch nicht alle anfänglichen Lebensumstände perfekt. Krankheit, Schwierigkeiten im Gebärsaal, der Verlust oder die Abwesenheit eines Elternteils sowie andere Traumata können das Ideal drastisch stören.

Wenn ein Elternteil emotional oder physisch nicht verfügbar ist, lernt das Kind bald, dass sein Rufen unbeantwortet bleiben wird. Dies kann zu einer unsicheren Bindung mit tiefer Angst bis hin zu Panik beim Kind führen. Noch gravierender sind aktive Schädigungen des Kindes wie etwa Misshandlung.

Leider spiegelt sich eine nach außen gerichtete unsichere Bindung auch häufig nach innen wider: Leidende Kinder wirken nach außen hin unsicher und schwach, und zugleich fehlt es ihnen an den notwendigen emotionalen Fähigkeiten, um sich ausreichend selbst zu trösten und die Emotionen zu regulieren. Hier sehen Wissenschaftler eine wichtige Ursache tiefsitzender Ängste im späteren Erwachsenenalter.

Die Psychologin Mary Ainsworth und ihre Kollegen entwickelten Ende der 1960er Jahre eine auf diversen Studien beruhende Verhaltensbeobachtung namens „Fremde Situation“. Diese teilt das Bindungsverhalten von Kindern in verschiedene Kategorien, die uns Rückschlüsse auf die Bindungsart zwischen Eltern und Kind ziehen lassen:

  • Unsichere, vermeidende Bindung:

Hier besteht nur wenig Interaktion zwischen Kindern und Müttern. Geht die Mutter, reagieren die Kinder kaum und können schnell von einer fremden Person getröstet werden. Kehrt sie zurück, spielen sie weiter. Sie haben gelernt, dass ihr Bedürfnis nach Zuwendung von der Mutter zu wenig beachtet wird. Durch dieses Verhalten vermindern sie die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Bedürfnisse wieder unberücksichtigt bleiben.

  • Unsichere, ambivalente Bindung:

Diese Kinder hängen sehr an ihrer Mutter und wollen selten spielen oder ihre Umwelt erkunden. Geht die Mutter weg, weinen und schreien sie viel. Kehrt sie zurück, wenden sich die Kinder ihr zu, sind aber auch wütend. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Zuneigung der Mutter sehr wechselhaft ausfällt.

  • Desorganisierte Bindung:

Hier ist bei den Kindern ein desorganisiertes Verhalten zu beobachten, etwa Erstarren oder Im-Kreis-Drehen. Beispielsweise läuft ein Kind der Mutter entgegen, hält dann plötzlich an und starrt vor sich hin. Dieses Verhalten ist in der Angst vor der Bezugsperson verwurzelt – im schlimmsten Fall durch Misshandlungen – oder in ängstlichen Reaktionen der Bezugsperson in bestimmten Situationen. Besonders oft tritt Letzteres auf, wenn Eltern traumatische Erfahrungen gemacht oder eine Panikstörung haben und diese auf ihr Kind übertragen. Die Bezugspersonen können dem Nachwuchs somit keine wirksamen Strategien im Umgang mit bestimmten Lebenslagen vermitteln. Das Kind steht daher oft vor einer unlösbaren Aufgabe und zeigt dann die beschriebenen desorganisierten Verhaltensweisen.

Ausweg aus instabiler Bindung

Wie wir gesehen haben, stellen enge Bezugspersonen bereits in den ersten Jahren die Weichen für die persönliche Entwicklung des Kindes. Verhalten sie sich dem Kind gegenüber instabil, kann erheblicher Schaden erwachsen. Oft haben Eltern ihrerseits bereits auf dem Lebensweg gelitten und waren nicht in der Lage, selbst völlige Heilung zu erfahren. Sein eigenes Bindungsverhalten zu erkennen und Eltern bzw. engen Bezugspersonen Vergebung zuzusprechen, sind die wichtigsten ersten Schritte auf dem Weg der Heilung. Als weiteren Schritt braucht es Zeit und Ausdauer, um sich neue Denkweisen anzutrainieren. Die kognitive Verhaltenstherapie hat gezeigt, dass dies tatsächlich möglich ist. Gute Freunde und ein trotz widriger Umstände festes Vertrauen in eine fürsorgliche Schöpfermacht sind Quellen der Kraft, die das oft so beschränkte Hier und Jetzt überschreiten. Denn wirkliche Heilung findet nie aus uns selbst heraus statt, sondern im Erfahren echter, tiefgreifender, göttlicher Vaterliebe – gerade dann und selbst wenn unsere leiblichen Eltern uns zutiefst enttäuscht haben. Ich kann nur ermutigen, sich diese echte, persönliche Zuwendung täglich abzuholen und – wo immer möglich – weiterzugeben!

Dr. Med. Andreas Binus

Facharzt für Allgemeine Innere Medizin

Leben & Gesundheit Ausgabe 2/2019