Lass mir meine Ruhe!

Egoistisch, fremdbestimmt oder frei? «Schon wieder», denkt sich S., als er abends allein im Büro weit über den Feierabend hinaus arbeitet. K. hatte ihn um Hilfe für ein wichtiges Projekt gebeten. Nur eine kleine Unterstützung, wie es schien, doch waren daraus letztlich viele Stunden Extraarbeit erwachsen. Und das erste Mal war es auch nicht! Obwohl beide sonst eigentlich gut zusammenarbeiten, spürt S. den Ärger in sich wachsen. Aber was hätte er tun sollen? Einfach «nein» sagen und K. im Regen stehen lassen?

Wer kennt das nicht? Man fühlt sich wie ferngesteuert. Die eigene Familie und Verwandtschaft, der Arbeitgeber und die Kollegen, die Gesellschaft, unsere Freunde, die Kirchgemeinde und nicht zuletzt man selbst – alles und jeder scheint mit gewissen Ansprüchen an uns heranzutreten. Es sind Ansprüche auf unsere Zeit, unsere Mithilfe, unsere ungeteilte Hingabe, unseren vollen Einsatz. Und obwohl wir alle erwachsene, freie Menschen sind – zumindest theoretisch! – fühlt man sich in solchen Situationen schnell sehr fremdbestimmt und Zwängen unterworfen.

Einfach nein sagen?

Eine einfache Patent-Lösung für dieses Alltags-Dilemma gibt es wohl nicht, auch wenn manch einer meint, sie längst gefunden zu haben: Einfach keinerlei Ehrenämter annehmen; nur das zusagen, wozu man wirklich Lust hat; konsequent «nein» sagen und sich abgrenzen und es ganz lässig aushalten, wenn andere enttäuscht sind. Bedarf an Hilfe? Nicht mein Problem! «Ich muss auch mal [oder wäre es nicht ehrlicher: in erster Linie?] auf mich schauen» … Auch wenn es sein mag, dass der Einzelne dadurch mehr Annehmlichkeiten hat, hat diese Haltung eindeutig auch ihre Schattenseiten. Was ist mit jenen Aufgaben in Familie und Gesellschaft, auf die gerade keiner Lust hat? Die für jeden ein Extra an Einsatz oder ein persönliches Opfer bedeuten? Wenn jeder auf sich schaut, ist eben nicht an alle gedacht! Hinter manchem «professionellen» Nein verbergen sich Egoismus und eine Weigerung dem gegenüber, was Menschsein und Nächstenliebe ausmacht!

Über eigene Grenzen gehen?

Auf der anderen Seite geht es vielen von uns so, dass wir geradezu ausbrennen, wenn wir überall den großen Bedarf sehen und immer meinen, persönlich und sofort in die Bresche springen zu müssen. Wer allerdings die eigenen körperlichen und seelischen Grenzen weder kennt noch achtet, erlebt nicht, wie der Einsatz für andere froh macht.

Wir lassen uns freilich oft von falschen Schuldgefühlen oder von fragwürdigen Beweggründen leiten wie z. B., es allen recht machen zu wollen oder beliebter zu werden. Bei so viel «selbstlosem» Einsatz bleibt etwas auf der Strecke. Wir kommen in ein Fahrwasser des Selbstmitleids, sodass wir anderen damit in den Ohren liegen, wie überarbeitet, überbeansprucht und gestresst wir sind. Der Tenor dabei: Ich habe keine andere Wahl, ich bin gefangen in Ansprüchen und Erwartungen. Wer lange genug so lebt, endet in Verbitterung und seelischem Ungleichgewicht, oft sogar beim verzweifelten Aufschrei eines Burn-out: «Lasst mich endlich in Ruhe! Ich kann nicht mehr!»

Selbstverantwortung

Es scheint, als stünden wir alle in Gefahr, in die eine oder andere Richtung abzudriften. Und doch muss es eine Alternative geben! Eines steht fest: Die innere Freiheit und Gelassenheit kann und darf uns niemand nehmen. Eine Beziehung, in der ein «Nein» nicht akzeptiert wird, ist nicht gesund. Selbst in der Familie muss es möglich sein, Grenzen zu setzen, ohne dass das als lieblos gilt. («Ich kann dich heute leider nicht anrufen, da ich noch einen Termin habe»; «Es kränkt mich, wenn du dich über mich lustig machst», usw.). Wo das nicht der Fall ist, sollte in aller Liebe das Gespräch darüber gesucht werden.

Auch wenn es um berufliche oder ehrenamtliche Aufgaben geht, sind gesunde Grenzen unerlässlich. Machen wir uns bewusst, dass es tatsächlich in unserer Macht steht, zusätzliche Aufgaben anzunehmen oder abzulehnen. Niemand kann uns zwingen. Wer permanent überfordert ist, muss das Gespräch darüber suchen oder – wenn keine Lösung absehbar ist – über eine berufliche Neuorientierung nachdenken.

Es ist auch nicht unsere Aufgabe, der Unverantwortlichkeit anderer Vorschub zu leisten, indem wir das übernehmen, was sie tun sollten. Wenn ich bei einer Aufgabe zusage, ist es meine bewusste Entscheidung, für die ich auch die Verantwortung übernehme. Damit habe ich kein Recht, dem anderen anschließend böse zu sein, weil er mich um Hilfe gebeten hat. (Wahrscheinlich werde ich mich manchmal über mich selbst ärgern, weil ich meine Kräfte überschätzt habe. Ich wurde aber nicht gezwungen oder fremdbestimmt, sondern es war meine eigene Entscheidung). Wenn wir uns diese Selbstverantwortung erhalten und aktiv leben, statt uns leben zu lassen, werden wir feststellen, wie viel wirksamer und motivierter wir an die Herausforderungen unseres Lebens gehen können.

Entspannte Kommunikation

Wenn ein «Nein» nötig ist, kommt es immer darauf an, wie man es vermittelt, am besten sachlich und mitfühlend: «Ich verstehe gut, dass da jemand gebraucht wird. Ich habe wirklich überlegt, wie ich helfen könnte. Leider ist es momentan unmöglich ». Manchmal kann man auch helfen, indem man mit dem Hilfesuchenden gemeinsam überlegt, welche anderen Schritte diese Person sonst noch gehen könnte. Das ist allemal besser, als einfach nur «nein» zu sagen! «In der Ruhe liegt die Kraft» – dieses Sprichwort drückt eine tiefe Wahrheit aus. Wer viel erreichen will – auch für andere –, braucht Phasen der Regeneration. Auch dafür tragen wir die Verantwortung. Genug Bewegung, frische Luft, ruhig am Esstisch genießen, Beziehungen pflegen, Zeit für die persönliche Einkehr … das sind keine Extras, sondern lebensnotwendige Gewohnheiten. Die Spannung, in jeder neuen Situation wieder abwägen zu müssen, kann uns wohl keiner abnehmen. Doch behalten wir im Auge, dass wir auch unsere Mittel und Fähigkeiten weise einsetzen müssen, um auf Dauer Einsatz bringen zu können!

Luise Schneeweiss

Redakteurin und Autorin

Leben & Gesundheit Ausgabe 1/2017