Was sind unsere Werte wert?
Die Freiheitsstatue vor New York wurde am 10. Oktober 1886 eingeweiht. Nun rückte der 100. Jahrestag dieses Ereignisses heran – es wurde Zeit für eine gründliche Untersuchung des Bauwerkes. Die Ingenieure stellten fest, dass die äußere Kupferhülle der Statue noch einigermaßen in Ordnung war, aber Korrosion die inneren Träger zersetzt hatte. Das wusste man eigentlich schon seit 1936. Dicke Farbschichten hatten das Problem weitgehend überdeckt. Ohne die Reparatur wäre die Statue eines Tages umgekippt. Bei der Renovierung wurden die brüchig gewordenen Träger durch rostfreien Stahl ersetzt. Nun kann die Statue auch starken Winden widerstehen. Werte sind wie eine innere Rahmenkonstruktion, die das Leben trägt. Sie spielen in allen Lebensbereichen eine große Rolle und halten eine Gesellschaft zusammen.
Werte- Wunder der Entwicklung
Jeder Mensch hat mindestens einen Wertekodex, auch wenn er ihn nicht immer einhält oder für verschiedene Lebensbereiche jeweils einen anderen Wertekatalog hat. Woher?
Die moralische Entwicklung des Menschen ist ein Wunder. Sie beginnt bald nach der Geburt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die angeborene Fähigkeit zum Mitgefühl. Schon 18 Monate alte Babys zeigen Empathie: Sie öffneten im Test einem unbekannten Erwachsenen die Schranktür, als sie merkten, dass er es nicht schaffte, weil er beide Hände voll hatte. Wer hätte nicht schon erlebt, wie bald alle Babys im Raum weinen, weil eines damit angefangen hat. Einem traurigen Erwachsenen bieten kleine Kinder zum Trost ihr Lieblingsspielzeug an.
Einem 12 Monate alten Jungen führten Forscher ein einfaches Puppenstück vor. Darin spielte eine Puppe einer anderen einen Ball zu. Die rollte ihn wieder zurück. Als die erste Puppe einer dritten den Ball zuspielte, nahm diese ihn an sich und rannte davon. Ende des Stücks. – Danach legten die Forscher dem Kind alle drei Puppen vor und fügten jeder ein paar Süßigkeiten hinzu. Nun sollte das Kind einer Puppe etwas von ihren Süßigkeiten wegnehmen. Der Junge entschied sich sofort für die dritte Puppe und schlug ihr auch noch auf den Kopf – eine eindeutige Botschaft. Das Kind hatte bereits im Alter von 12 Monaten ein klares Werteraster.
Der Mensch besitzt offenbar schon von Anfang an die Fähigkeit, nach gewissen Grundwerten zu leben. Neuere Forschungen belegen eindrucksvoll, dass Kinder glücklicher sind, wenn sie in ihrer Familie mit bestimmten Werten aufwachsen. Sie haben mehr Herzlichkeit erlebt, sind bei Problemen und Misserfolgen belastbarer und legen häufig auch eine optimistischere Haltung an den Tag.
Wayne Dosick, Religionswissenschaftler, Psychologe und Autor des Buches «Kinder brauchen Werte. 10 Lebensregeln, die Kindern Halt und Orientierung geben», hat eine Liste an Werten erstellt, die Eltern ihren Kindern mitgeben sollten: Respekt, Wahrhaftigkeit, Fairness, Verantwortungsbewusstsein, Mitgefühl, Dankbarkeit, Freundschaft, Friedfertigkeit, Streben nach persönlicher Reife und Glauben. Laut Rabbi Dosick, der in San Diego (USA) mit der «Synagoge ohne Mauern» eine neuartige jüdische Gemeinde gegründet hat, sind das zeitlose Werte, die das Leben der Kinder und den Umgang der Menschen miteinander erleichtern können. Eltern tragen eine immense Verantwortung, denn jede Generation hat es weitgehend in der Hand, wie die nachfolgende leben wird. Was Eltern ihren Kindern in Sachen Werte vorleben, wird diese nachhaltig beeinflussen.
Werte auf der Waage
Allerdings geraten Werte und egoistische Wünsche gelegentlich miteinander in Konflikt. Wir wägen ab, wofür wir uns entscheiden. Während Kinder noch sehr darauf bauen, dass alles in der Welt gerecht zugeht, und sie sich daher ebenfalls gerecht verhalten (wollen), haben Jugendliche schon erlebt, dass die Dinge anders liegen. Oft gewinnt der Skrupellose, obwohl es einem anderen zusteht. Die Jugendlichen wollen nicht «der Dumme» sein und umgehen manchmal geschickt ihre Wertmaßstäbe, um auf der vermeintlichen Siegerseite zu stehen. In entsprechenden Tests, wo Probanden Geld mit anderen teilen sollten, waren Kinder eher als junge Erwachsene willens, die Hälfte abzugeben. Die Jugendlichen hielten bereits innere Argumente bereit, um ihren Geiz zu rechtfertigen, indem sie behaupteten, dass die anderen es sicher ebenso machen oder das Geld sowieso nur verschwenden würden. Die ungewöhnlichste Rechtfertigung eines Probanden für seine mangelnde Bereitschaft zum Teilen lautete: «Immerhin müssen wir uns jetzt mit unserem schlechten Gewissen herumschlagen» (1)
Sind wir Erwachsenen anders? Jemand, für den Ehrlichkeit grundsätzlich ein hoher Wert ist, erzählte mir, dass er neulich in seinem Einkaufskorb nach Verlassen des Ladens eine Kleinigkeit entdeckte, die er versehentlich nicht auf das Förderband an der Kasse gelegt hatte. Zurückgehen? Noch einmal anstellen? Wegen der Kleinigkeit? An dem Tag war er zu müde dazu …
Die Bahn hatte mir eine Bonuskarte geschickt, mit der ich als Upgrade einmal 1. Klasse fahren durfte. Der Schaffner kam, und ich ertappte mich für eine Sekunde beim Gedanken, dass das 1.-Klasse-Fahren doch eine schöne Sache sei. Ob der Schaffner vielleicht die Upgrade- Karte zu entwerten vergisst? Würde ich sie ein zweites Mal benutzen, wenn es ginge? Warnend meldete sich mein Wertesystem, d. h. mein Gewissen. – Der Schaffner beendete meine innere Diskussion mit einem herzhaften Zangenklick. Wer wirft den sprichwörtlichen «ersten Stein»?
Werte als Wegweiser
Vom Wertesystem eines Menschen hängt viel ab. Wenn jemand vor anderen Menschen gut dastehen will, wird das Leben eine andere Richtung nehmen, als wenn für ihn Priorität ist, die gottgegebenen Talente einzusetzen, um Positives in der Welt zu bewirken. Werte haben Einfluss darauf, für welche Risiken sich ein Mensch entscheidet.
Steve Jobs, Apple-Erfinder und Perfektionist mit nahezu religiöser Gefolgschaft, hielt jenseits seiner Produktpräsentationen kaum öffentliche Reden. 2005 jedoch sprach er bei der Eröffnung des akademischen Jahres an der Stanford University. Vielleicht stand er noch unter dem Eindruck seines 50. Geburtstages und der ein Jahr zuvor überstandenen Krebs-Operation, als er sagte: «Der Gedanke, dass ich bald tot sein werde, ist die wichtigste Entscheidungshilfe für die großen Fragen des Lebens. Weil fast alles – alle äußeren Erwartungen, aller Stolz, alle Versagensangst – im Angesicht des Todes bedeutungslos wird, bleibt nur das wirklich Bedeutsame übrig.» (2)
Nun muss uns nicht erst der heranrückende Tod helfen, unser Wertesystem zu ordnen. Es gibt noch andere Gründe. Wir fühlen uns gut, sicher und wertvoll, wenn wir eine feste Orientierung besitzen. Wenn immer alles relativ ist und es keinerlei Grenzen gibt, werden wir unsicher. Sich ständig neu definieren zu müssen, strengt an. Darum helfen Werte, unsere Identität zu formen und eine eigenständige Persönlichkeit zu werden.
Leben wir nach unseren Werten, haben wir das Gefühl, unser Leben zu kontrollieren und nicht ein Spielball der verschiedenen Lebenslagen zu sein. Das gibt uns das Empfinden innerer Stärke und macht uns frei, anderen zu helfen. Setzen wir doch die Prioritäten unseres Lebens so, dass wir redlich leben! Wenn jemand von Zuhause weggeht – zur Schule, ins Internat, in den Urlaub – und lebt ganz anders als zu Hause, hat er sich dort nur angepasst und seine Werte nicht verinnerlicht. Er ist lediglich dem sozialen Druck gefolgt. Damit wird niemand auf Dauer glücklich. Wir wollen authentisch leben. Das schließt ein, dass sich Werte wandeln können und wir dazulernen. «Wer sich nicht bewegt, kann auch nichts bewegen.» (3)
Welche Werte wichtig sind
Seit 1953 gibt die Firma Shell Jugendstudien heraus. Sie beauftragt unabhängige Forschungsinstitute, um Sichtweisen, Stimmungen und Erwartungen von Jugendlichen in Deutschland zu dokumentieren. Sie sind bereits zum 16. Mal erschienen und vermitteln neben dem Blick auf das Leben der Jugendlichen auch gesellschaftspolitische Denkanstöße. Aus einer solchen Studie ergibt sich eine interessante Werteliste der 15- bis 29-Jährigen (siehe Infokasten Shell-Studie 2010).
Dieser Wertekatalog lässt für die Zukunft hoffen. Interessanterweise kommt auch der Glaube an Gott vor, wenngleich nicht weit oben.
Werte im Wandel
Werte wandeln sich mit der Veränderung einer Kultur. Beispiel Schönheitsideal: Zu Zeiten von Peter Paul Rubens galt eine Frau mit üppiger Körperfülle als schön. Heute kämpfen wir per Gesetz (z. B. in Frankreich) gegen die Magersucht von jugendlichen Models. War in den letzten Jahrzehnten der Wohlstand das Ziel vieler Menschen – «mein Haus, mein Auto, mein Boot» (4) –, wird nun das Wohlbefinden erstrebenswert.
Die jüngsten Krisen haben gelehrt, dass es nicht immer so weitergehen kann. Die Menschen orientieren sich um. Lebensqualität, Lebenszufriedenheit und das Miteinander der Generationen werden wieder wichtig. «Für die nächste Generation wird die Familie kein Auslaufmodell und Konsum oder Kind keine wirkliche Alternative mehr sein.» (5) Die Menschen sagen sich: Lieber glücklich als reich. Lieber gute Freunde als viel Geld. Was nützt einem die schönste Eigentumswohnung, wenn man darin vereinsamt?
Der Hamburger Professor und Zukunftsforscher Horst Opaschowski spricht von «Wertebotschaften statt Werbebotschaften».
Als ich im Norden Deutschlands ein soziales Projekt für alleinerziehende Eltern besichtigte und eine 15-jährige Helferin für eine TV-Sendung interviewte, antwortete sie mir auf die Frage nach ihrer Motivation: «Ich mache es, weil ich es für wichtig halte, dass man der Gesellschaft etwas zurückgibt. Und wenn ich selbst in der Situation wäre, würde ich mir auch wünschen, dass andere so etwas für mich machen. Ich finde das einfach gut.» Das deckt sich mit der Beobachtung Professor Opaschowskis: «Die Gesellschaft der Ichlinge befindet sich auf dem Rückzug.» (6)
Auch ein anderer Wert wird neu geschätzt – das Vertrauen. Die sich ausbreitende Gier und die mangelnde Verantwortung der letzten Jahre brachten ein wichtiges Element des gesellschaftlichen Zusammenhaltes in Gefahr: das Vertrauen. Aber nun wächst es wieder. Wie auch die Hilfsbereitschaft. Offenbar lässt die Krise die Menschen wieder mehr zusammenrücken. Man spürt, dass man aufeinander angewiesen ist. Vertrauen, Verantwortung und Verlässlichkeit (drei Mal «V») sind wichtige Elemente, die unsere Gesellschaft braucht, wenn sie eine Zukunft haben will. Darum fängt man schon an, von der «Generation V» zu sprechen. (7)
Die sächsische Band «Silbermond», vor Jahren hervorgegangen aus einem Förderprogramm des CVJM und in allen drei deutschsprachigen Ländern lange Zeit auf Platz 1 der Charts, brachte diesen Gedanken zum Ausdruck: «Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit, in einer Welt, in der nichts sicher scheint. Gib mir in dieser schnellen Zeit irgendwas, das bleibt.»
- Ute Eberle: Der Mensch und die Moral in: Geokompakt, Gut und Böse, Nr. 25, S. 55
- Isaacson, Walter, Steve Jobs, C. Bertelsmann Verlag München 2011, S. 538
- Opaschowski, Horst W., Wohlstand neu denken: Wie die nächste Generation leben wird, Gütersloher Verlagshaus, 2009, S. 18
- Wer sich noch einmal erinnern will: https://www.youtube.com/watch?v=Z-rvb5qoalY
- Opaschowski, ebd. S. 20
- Opaschowski, ebd. S. 21
- Siehe Opaschowski, ebd. S. 22f.
Matthias Müller
Religionspädagoge (M.A.), TV-Redakteur, Fotojournalist und Autor
Leben & Gesundheit Ausgabe 3/2015