Die Kraft der Hoffnung

Als ich seine Theorie des Schmetterlingseffekts zum ersten Mal hörte, war ich von dem Wahrheitsgeruch dieser simplen Fragestellung fasziniert, und gleichzeitig konnte ich vor Covid kaum an eine globale Auswirkung solch minimaler Auslöser glauben. Vor allem schien es mir undenkbar, dieses Phänomen einmal am eigenen Leib und dermaßen drastisch zu erleben. Es überstieg schlicht meinen Vorstellungshorizont, dass ein mikroskopisch kleines Virus, das Tausende von Kilometern von meinem Garten entfernt ausbricht, auch nur den geringsten Einfluss auf meinen Freiraum und meine Hobbys haben könnte – wie auf dasjenige, das mir jetzt nicht mehr möglich ist – Tennis. Andere Freizeitbeschäftigungen wurden ein neuer Bestandteil meines Lebens wie z. B. Joggen, Hühnerhaltung und Händewaschen. Da gibt es aber auch die Auswirkungen auf mein Beziehungsnetz, meinen Tagesablauf, meine Arbeitssituation, meine Gesundheit, meine Frisur (ja, auch ich hatte mich einmal kahl geschoren), meine Finanzen (nicht zuletzt durch überteuerte Online-Versandgebühren für billigste Artikel) und auf meine Stresshormonproduktion, weil plötzlich vier Kinder von heute auf morgen stundenlang von uns Eltern beschult werden müssen, und wir dabei auf gefühlten 73 Kommunikationskanälen mit gefühlten 83 Lehrpersonen in einer Dauerkommunikationsschleife hängen.

Doch ich habe dazugelernt. So ein Schmetterlingsflügel ist wuchtig, und die globalen Systeme sind anfälliger als vermutet. So führte ein einzelnes feststeckendes Schiff im Suezkanal zu massiven Lieferengpässen von verschiedensten Gütern – unter anderem gingen den Briten die Gartenzwerge aus. Was sich ebenso schrecklich anfühlen muss wie fehlendes Toilettenpapier – den Mitteleuropäern das Maximum an Dramaturgie in ihrer Vorstellungskraft für ein nahendes Ende. Man kann es nur so deuten: Wenn die Welt untergeht, möchten viele nur noch ihren A**** retten.

Vor allem eines hat Covid letztendlich offenbart: die Ängste, die wie Tiefseefische auf dem Grund unserer Seelenbadewanne dahindümpeln. Das Virus hat den Stöpsel unserer Badewanne herausgezogen, sodass all die lebendige Strebsamkeit, welche unser Leben durchflutete, unerwartet abgeflossen ist. Zurück blieb, was schon immer unsichtbar da gehaust hatte: bei den einen ein hoffnungsvoller Weltrettungsaktivismus, bei den anderen ein pessimistischer Lebenserhaltungstrieb. Sigmund Freud hat noch geglaubt, dass wir uns in Krisen einander angleichen. Der Psychiater Viktor Frankl beobachtete als KZ-Insasse in Auschwitz jedoch: «Dort verschwammen die individuellen Unterschiede nicht, im Gegenteil, sie traten offenkundiger hervor. Die Menschen haben sich selbst demaskiert, sowohl die Schweine als auch die Heiligen.»

Meine bescheidene Erfahrung sagt mir, dass jeder Mensch «schweinische» wie auch «heilige» Anteile in sich trägt. Der Grad an Hoffnung in uns bestimmt, welcher davon zu welcher Zeit und in welchem Ausmaß nach außen drückt – ob wir selbstlos Menschen pflegen oder egoistisch Toilettenpapier hamstern.

Optimismus ist eine Entscheidung

«Entscheide dich dafür, optimistisch zu sein! Es fühlt sich besser an.» Eine Aussage, die dem Dalai Lama zugeschrieben wird. Tatsächlich suggeriert uns ein erster Blick, dass ich mit meiner Einstellung keinen Einfluss auf meine Zukunft nehmen kann. Selbst über dem größten Pessimisten scheint regelmäßig die Sonne, und auch die größten Optimisten sind nicht vor Regentagen gefeit. Trotzdem haben wir mehr in der Hand, als wir manchmal ahnen. Laut einer Studie im British Medical Journal von 2010 führt allein die Angst vor Stürzen bei Senioren zu einer erhöhten Anzahl dieser Unfälle. Die gegenläufige Dynamik hat der unheilbar erkrankte Wissenschaftsjournalist Norman Cousins anhand eines Selbsttests bewiesen. Es ging um die Heilung durch positive Gedanken und Gefühle. Die Ärzte attestierten ihm eine Überlebenschance von 1:500, was Norman aber keineswegs in die Resignation trieb. Systematisch ließ er sich täglich durch lustige Filme oder das Vorlesen von witzigen Büchern zum Lachen bringen. Die Folge war eine Abnahme der Schmerzen, er konnte besser schlafen und hatte durchwegs bessere Gesundheitswerte. Er hatte sich buchstäblich gesundgelacht und damit nebenbei die Gelotologie, die Lachforschung, erfunden. Studien belegen, dass positive Gefühle, Gedanken und gerade auch Hoffnung auf unzählige Bereiche unseres Lebens einen signifikanten Einfluss ausüben. Die Hoffnung spielt für das psychologische Wohlbefinden und die physische Gesundheit eine wichtige Rolle. Untersuchungen haben ergeben: Die Hoffnung wirkt sich positiv auf die sportlichen Leistungen von Athleten aus, wirkt bei schweren Krankheiten schmerzlindernd und beschleunigt die Genesung. Menschen mit Hoffnung haben stärkere Beziehungen, weniger Depressionen und Ängste, sind kreativer bei Problemlösungen und erfolgreicher im Studium. Dabei ist die Hoffnung nicht eine bloße Frage der Umstände oder der Persönlichkeit, sondern der Blickrichtung. Oder wie es der französische Künstler Henri Matisse formulierte: «Es gibt überall Blumen für den, der sie sehen will.» Das Leben mit einem optimistischen Blick zu betrachten ist weit mehr als nur eine Lebenseinstellung für Naivlinge oder für Menschen, die realitätsfremd dem Schmerz entfliehen wollen. Ein gesunder Optimismus, der dem Grundrauschen der Hoffnung entspringt und wie ein breiter Fluss seine Bahn durch unsere Seele zieht, vermag die Richtung und die Frucht unseres Lebens in hohem Maß positiv mitzugestalten.

Die Kraft der Hoffnung

In einem Slum von Addis Abeba blickte ich zum ersten Mal mit schockierendem Erschaudern einer geballten Ladung Hoffnungslosigkeit in die Augen. Eine Mutter hielt uns mit flehendem Blick ihren Säugling hin mit der Bitte, ihn mit nach Europa zu nehmen, da sie keine Zukunft, kein Leben und Überleben für ihn sah. Diese ungefilterte Essenz an Hoffnungslosigkeit brach mir das Herz, ließ mich tagelang immer wieder weinen und hat ein Brandzeichen auf meiner Herzenshaut hinterlassen. Damals entschied ich mich, mit meinem Leben, wo immer es möglich ist, Hoffnung in die Welt hineinzutragen. Cannon Walter hat 1942 seine Untersuchungen veröffentlicht, warum Menschen an nichttödlichen Dingen gestorben sind – wie beispielsweise ein Mann am «Gift» einer – wie sich hinterher herausstellte – ungiftigen Schlange. Basierend auf diesen Untersuchungen ließ der Verhaltensforscher Curt Richter Ratten in einem glattwandigen Gefäß schwimmen. Im Schnitt ertranken sie nach 15 Minuten. Einzelne Ratten rettete er kurz vor dem Ertrinken, um sie nach einer kurzen Erholungszeit wieder ins Wasser zu setzen. Diese Ratten schwammen und hielten ihren Kopf bis zu 80 Stunden über Wasser, 320 Mal länger. Das Einzige, was die Langschwimmerratten von den Kurzschwimmern unterschied, war: Hoffnung, denn sie hatten einmal erlebt, wie es ist, gerettet zu werden!

Die Abwesenheit von Hoffnung lähmt und lässt das Leben abfließen. Hoffnung jedoch durchdringt jede Zelle des Lebens. Von deiner Hoffnung leben deine Beziehungen, deine Ehe, deine Träume, deine Zukunft und dein Glaube. Dort, wo du das Hoffen aufgibst, werden diese Dinge sterben. Eine Gesellschaft, die nicht mehr hofft, wird an sich selbst zerbrechen. Wenn wir aber lernen, mit den Füßen im Grundrauschen der Hoffnung baumelnd zu leben, sind wir fähig, unser Leben aktiv mitzugestalten und als Hoffnungsträger eine lebenspendende Zuversicht in unser Umfeld hineinzutragen.

Kape Musang

Selbst schwierige Prozesse vermögen unserem Leben Positives zu verleihen. In einer Auszeit auf den Philippinen stieß ich auf den berühmten «Kape Musang» – Kaffee der Wildkatze. Einheimische hatten begonnen, die von den Wildkatzen gefressenen und wieder ausgeschiedenen Kaffeebohnen zu sammeln, um daraus Kaffee zu machen. Anfänglich als minderwertiges Produkt angesehen, entdeckte man plötzlich, dass durch die chemischen Vorgänge bei der Verdauung diese Kaffeebohnen einen einzigartigen Geschmack erhielten. Auf diese Weise wurde daraus eine der teuersten Kaffeesorten dieser Welt. Sie kostet bis zu 1 200 Franken pro Kilogramm! Das Leben kann uns auch manchmal durch die Mangel drehen, und es fühlt sich an, als müsse man «unten durch». Aber nicht selten geben diese Prozesse unserem Leben eine Tiefe, eine unverkennbare Geschmacksnote und einen Erfahrungsschatz, der uns unbezahlbar wertvoll macht, gerade auch für Mitmenschen. Lassen Sie nicht zu, dass Ihnen die Umstände langfristig die Hoffnung rauben!

Chava Ginsburg, eine Jüdin aus Ungarn, die Auschwitz, Bergen-Belsen, Markkleeberg und auch Mengeles Experimente überlebt hat, sagt: «Wenn du deine Hoffnung verloren hast, kannst du keine Kinder in die Welt setzen, nicht heiraten, gar nichts tun. Hoffnung ist das wichtigste Wort der Existenz. Ich habe das Gefühl, gewonnen zu haben – nach all dem, was ich hinter mir habe. Und nun bin ich hier und glaube an die Menschheit.»

Grundrauschen der Hoffnung

Während das Corona-Virus die Welt ins Wohnzimmer verbannte, fand ich mich plötzlich am Bett des knapp siebenjährigen Sohnes von Freunden wieder. Völlig unerwartet war er viel zu früh aus dem Leben gerissen worden und lag nun da, als würde er jede Sekunde wieder zu atmen beginnen. Der Anblick schnürte mir das Herz ab. Es war ein Augenblick der Sprachlosigkeit, des Stillstandes, der Dunkelheit. Auf dem Nachhauseweg rang ich, und die Frage stieg auf, wo in solchen Momenten die Hoffnung noch Platz hat. Die Frage ist aber nicht, ob man noch hoffen darf – vielmehr muss man hoffen! Es geht dabei nicht darum, Schmerz weichzuspülen oder Leid zu unterdrücken. Es ist auch normal, dass wir, konfrontiert mit der Fratze des Schmerzes, das Aufblitzen des Lichtes am Horizont nicht immer wahrnehmen können. Aber es ist eine unerträgliche Hoffnungslosigkeit, wenn wir das Leben nur im Hinblick auf das Jetzt verstehen. Der Blick auf den Horizont lässt die Trauer nicht verschwinden – aber er bringt den hoffnungsvollen Klang hinein, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Wie steht es um Ihre Hoffnung? Hoffen Sie? Könnte es Zeit sein, vielleicht einmal die Blickrichtung zu ändern und dadurch auch für andere Menschen zu einer Trägerin, einem Träger der Hoffnung zu werden?

Es ist ein Grundrauschen der Hoffnung, dass immer die Chance besteht, dass sich Dinge überraschend noch zum Guten wenden, dass sich der Wind dreht und dass es immer einen Weg gibt, der ins Leben hinein und zurückführt. Und wenn einem dabei manchmal nur der hoffnungsvolle Blick über dieses Erdenleben hinaus bleibt. Optimisten sind Realisten, die gelernt haben, als Hoffnungsmenschen lebend, die Sonne hinter den Wolken zu erahnen.

Andreas Boppart

Referent und Autor

Leben & Gesundheit Ausgabe 4/2021