Leben in Balance – wenn weniger mehr ist

«Das Glück besteht darin, in dem zu Maßlosigkeit neigenden Leben das rechte Maß zu finden.» Dieser Ausspruch von Leonardo da Vinci aus dem frühen 16. Jahrhundert ist heute aktueller denn je. Wer wollte bestreiten, dass die Meisterleistung – ein Leben in Balance – immer seltener gelingt? Der Tag beginnt hektisch und endet ebenso. Für Pausen fehlt anscheinend die Zeit, und die knappen Erholungs- und Freizeiten werden entweder totgeschlagen oder mit Events überfrachtet.

Atemlos überleben?

Diese uns bekannte und vertraute Lebenssituation charakterisiert ein Wort des Religionsphilosophen Abraham Joshua Heschel, der beobachtend Folgendes formulierte: «Es gab noch keine Zeit, in der das Bedürfnis nach Selbstdarstellung so sehr hervorgehoben wurde wie heute. Es gab jedoch auch noch keine Zeit, in der Selbstdarstellung so selten erreicht wurde, in der so viel Druck ausgeübt wurde, sich Konventionen, Klischees, der Mode und der Norm anzupassen wie heute. Das Ich ist stumm, Worte sind tot und das Gebet ist eine vergessene Sprache. Der Mensch ist in Vergessenheit geraten. Wir kennen seine Wünsche, seine Launen, sein Versagen, aber wir kennen seine letztgültige Bestimmung nicht mehr. Wir verstehen, was er tut. Wir verstehen nicht mehr, was er bedeutet. Wir stehen mit Bewunderung vor vielen Dingen. Wir wissen nicht mehr, wofür wir stehen.» Selbstdarstellung, ständige Anpassung und immer neue Herausforderungen sind anstrengend, aufreibend und auslaugend. Vermengt mit Tempo, Hektik und Rastlosigkeit entsteht daraus ein gefährliches Gemisch, das uns den Atem raubt. Und wer kann schon atemlos überleben?

„Leben im Gleichgewicht“…

… ist aus dem Tritt geraten, passt nicht mehr in unsere moderne Zeit, ist antiquiert und aussortiert. Wer es jedoch sucht und in seinem Alltag umsetzt, gewinnt Glück, Zufriedenheit und Gestaltungsraum. Neulich beobachtete ich ein Kleinkind beim Erlernen der ersten Schritte. Jeder von uns weiß, wie schwierig es ist, das Gleichgewicht zu finden und zu halten. Bald fällt das Kleine nach links, dann nach rechts, sucht helfende Unterstützung und wagt es doch immer wieder von Neuem, Schritte im richtigen Rhythmus und im notwendigen Gleichgewicht zu finden. Hätten wir uns nicht angestrengt und diesen «Niederlagen» getrotzt, würden wir uns bis heute kriechend oder gar nicht fortbewegen. Das richtige, lebensfördernde und glücklich machende Maß erfordert Geduld, Ausdauer und Mut. Heute denken wir gar nicht mehr darüber nach, wenn wir uns aufrecht und im Gleichgewicht bewegen, selbst in unwegsamem Gelände. Sobald wir jedoch – durch Herausforderungen besonderer Art – «die Balance» verlieren, merken wir dies schnell und schmerzhaft. Im Gegensatz zur Fortbewegung ist die Erhaltung einer gesunden, ausgewogenen Lebensbalance zwischen Körper, Seele, Geist und Sozialem ein lebenslanger Lernprozess. Dabei machen sich jedes Extrem und jede Einseitigkeit über kurz oder lang unweigerlich bemerkbar. Selbst «Gutes» und «Gesundes» kann sich ins Gegenteil kehren und mich «stürzen» lassen, wie die steigende Rate an Burnout-Opfern zeigt. Das sind die stillen Dramen zehrender und unbeachteter Überforderung. Wir leben heute unter der Diktatur des Adrenalins. So konsequent und entschieden wir Diktatoren ablehnen, so freiwillig und gedankenlos akzeptieren wir die Tyrannei von Zeitlimits. Atemlos hetzen wir von der Arbeit in die Freizeit. Die moderne High-Speed-Gesellschaft benötigt unablässig aufpeitschende Reize und entspannende Beruhigungsmittel, damit wir mit der Non-Stop-Kultur einigermaßen Schritt halten können. Beständig griffbereite und nie ausgeschaltete Smartphones erhalten die Hochspannung Tag und Nacht aufrecht. Wo bleibt dabei das Gleichgewicht, der Ausgleich im Leben? Angst, Unruhe, Nervosität und Reizbarkeit werden zu unliebsamen, aber häufigen Wegbegleitern. Diese Belastungen wollen beachtet und wahrgenommen werden. Entspannung ist angesagt – aber nicht durch falsche «Freunde» wie Alkohol, Tabak, Drogen etc., die uns als Scheinlösungen in so vielen Bereichen vorgelebt werden. Mit Maß und Ziel Maßhalten beschreibt die Fähigkeit, die Mitte zwischen Unter- und Überforderung zu finden und dabei verantwortungsbewusst gesunde Grenzen zu setzen. Dieses persönliche (!) gesunde Maß zu erkennen und danach zu leben, ist langfristig die beste Zukunftsinvestition für ein erfülltes, langes Leben. Während wir einem finanziellen Bonus äußerst aufgeschlossen gegenüberstehen, vernachlässigen wir allzu leicht unsere Gesundheit. Ihr gegenüber sind wir geringschätzig und achtlos.

Thermostat oder Thermometer

Mir persönlich hilft der Vergleich zwischen einem Thermometer und einem Thermostaten. Ein Thermometer stellt passiv fest, was Sache ist – unabhängig von Wärme oder Kälte. Er bestätigt mir, dass ich wegen der Hitze schwitze, die Kälte mich frieren lässt und ich mich wohl fühle, wenn alles im Lot ist. Ein Thermostat hingegen misst nicht nur die Temperatur, sondern regelt diese aktiv auf jenes Maß, das mir guttut. Da gibt es eine beständige Rückmeldung, um beizeiten für den nötigen und erwünschten Ausgleich zu sorgen.

Gelassenheit der Mitte

Der lateinische Begriff «temperare» für «ins richtige Maß bringen» meint, aus verschiedenen Teilen ein geeintes und geordnetes Ganzes zusammenzufügen. Maßhalten sucht und berücksichtigt also die Mitte zwischen den Polen Übertreibung und Mangel und verhilft uns zur gewünschten Balance. Ausgewogenheit vermeidet Extreme jeglicher Art und bemüht sich um ein harmonisches Gleichgewicht, somit um die «Gelassenheit der Mitte» (reden – schweigen | bewegen – ruhen | einatmen – ausatmen | anspannen – entspannen | essen – verdauen | …). Ein maßloser Mensch überfordert sich auf dem einen oder anderen Gebiet. Er lebt nicht auf der Grundlage eines ausgeglichenen «Lebenskontos», sondern auf «Pump» – mit all den damit verbundenen zerstörerischen Folgen. Die persönliche Lebensqualität erhöht sich durch die positive Auseinandersetzung mit der folgenden Frage: Was und wie viel ist für mich gut? Was fordert mich auf der einen Seite heraus, ohne mich auf der anderen Seite zu unter- bzw .überfordern? Und in welchen Bereichen ist weniger mehr? Thomas von Aquin fasste diese Gedanken sehr weise zusammen, indem er ausführte, dass der Sinn des Maßhaltens die innere Ordnung des Menschen ist, aus der auch eine «Ruhe des Gemüts» erfolgt – also das Gleichgewicht des Lebens. Unordnung führt vielfach zu Unfrieden. Sie wirft uns aus der Bahn und verleitet nur allzu leicht zum Griff in die Welt der Abhängigkeiten (Alkohol, Aufputschmittel …).

Warum maßlos?

Nicht unwesentlich ist bei der Betrachtung dieses Themas die Frage, was uns zur Maßlosigkeit verführt, warum wir dem Ungleichgewicht im Lebensalltag so leicht erliegen? Suchen wir Anerkennung? Mangelt es uns an Selbstwert? Fürchten wir, zu kurz zu kommen? Ist meine Rastlosigkeit die Flucht aus der Einsamkeit? Empfinde ich mein Leben als sinnlos? Wenn jemand – wie beim Essen – alles in sich hineinfrisst und Ärger, Neid, Unzufriedenheit, Ängste usw. kommentarlos schluckt, dem geraten auch sein Denken, Fühlen und Wollen in Unordnung und Unruhe. Die Folge davon ist keineswegs nur ein «Figurproblem», sondern eine seelische Verstimmung unterschiedlichen Ausmaßes. Noch nie gab es – trotz hohen Wohlstands – gleichzeitig so viele Unzufriedene, Alkoholkranke, Abhängige, Stressgeplagte, aus dem Gleichgewicht Geworfene.

Mach mal Pause!

Zum richtigen Lebensrhythmus gehören Abstand und Pausen. Die schöpferische Kraft braucht Zeit, Muse und Ruhe. Dadurch kommt «Farbe» ins Leben, und selbst der graue Alltag gewinnt an Ausstrahlung und Leuchtkraft. Der Körper gewinnt seine Energie nicht in erster Linie beim Essen, sondern erreicht Wachstum und Dynamik vor allem in den «Pausen», also zwischen Nahrungsaufnahme und Ausscheidung – während der Verdauung. Um das Gleichgewicht in allen Lebensbereichen zu erhalten, ist dieser Zwischenraum unbedingt notwendig. Dadurch wird ein vorangegangener Prozess bearbeitet, abgeschlossen und verdaut. Der unnötige Ballast wird ausgeschieden.

Höchstgeschwindigkeit überschritten?

Der moderne Zeitgeist setzt auf Beschleunigung – im Sport, bei der Arbeit, beim Essen, mit sämtlichen Verkehrsmitteln. Viele sind überzeugt, dass wir mit der maßlosen Beschleunigung ganz gut zurecht- und vorankommen. Körperlich mag das stimmen, doch Geist und Seele reisen gerne langsam und bleiben bei Hektik und Hetze häufig «auf der Strecke», Sie fühlen sich überfahren. Höchstgeschwindigkeiten und eine unmäßige Lebensweise tun ihnen nicht gut. Sie scheinen sich sogar vielseitiger zu entwickeln, je maßvoller und beschaulicher die einzelnen Streckenabschnitte des Lebens durchschritten werden. Durch Beschleunigung wird zwar die Quantität erhöht, die Qualität des Lebens jedoch verkümmert. Maschinen sind auf Schnelligkeit programmiert, der Mensch ist aber keine Maschine. Unsere tiefsitzende Sehnsucht gilt einem Leben im Gleichgewicht, andernfalls fühlen wir uns schnell verschlissen und frühzeitig zum Stillstand gezwungen. Es empfiehlt sich, den inneren Tacho im Auge zu behalten und zu prüfen, wann und wo wir die Höchstgeschwindigkeit überschreiten. Wenn wir in die falsche Richtung fahren, nützt eine zusätzliche Beschleunigung nichts.

Ein Lernender bleiben

Ich bin selbst ein Lernender auf dem umfassenden Gebiet der Mäßigkeit. Wann immer es mir bewusst wird, dass ich die Balance verliere, und ich entsprechende Gegenmaßnahmen einleite (ob körperlich, seelisch, geistig-geistlich oder sozial), fühle ich mich danach ruhiger und gelassener. Es zahlt sich aus, ein Leben im Gleichgewicht nicht aus den Augen zu verlieren und sich hierfür einzusetzen– denn weniger ist meist viel mehr!

Günther Maurer

Gesundheitsberater, Führungskraft

Leben & Gesundheit Ausgabe 5/2014