Maß halten – Leben gestalten! Ein Plädoyer für Mäßigkeit
Mal ganz ehrlich …
… Welche Emotionen lösen Begriffe wie «mäßig» oder «Mäßigkeit » in Ihnen aus? Halten Sie Bescheidenheit, Genügsamkeit, Zufriedenheit, Gelassenheit, Selbstbeherrschung und Besonnenheit für attraktive, erstrebenswerte Tugenden? Oder schrecken Sie Verzicht, Entsagung, Selbstbeschränkung, Abstinenz, Askese oder vielleicht gar eine gewisse Opferhaltung eher ab? Denken Sie bei «mäßig » an gemäßigt, angemessen, maßvoll, ausgewogen oder eher an mittelmäßig, durchschnittlich, gewöhnlich oder eventuell gar dürftig, schwach oder ungenügend? Trägt Mäßigkeit wirklich zu Ihrer Gesundheit, Ihrem Glück und Wohlbefinden bei oder ist nicht eher das Gegenteil der Fall? Führt Mäßigkeit nicht zu einer Nivellierung der Höhen und Tiefen des Lebens und steht somit der Lebensfreude, dem Genuss bis aufs Letzte, dem vollen Auskosten des Lebens, im Weg? Seit der Antike Mäßigkeit ist tatsächlich ein Begriff mit verschiedenen Bedeutungen. Im Zusammenhang mit den Auswirkungen auf unsere Gesundheit und Lebensqualität tun wir gut daran, bewusstzu klären, was wir darunter verstehen wollen. Mäßigkeit oder Mäßigung wird seit der Antike zusammen mit Gerechtigkeit, Tapferkeit und Frömmigkeit (später ersetzt durch Weisheit oder Klugheit) zu den vier Kardinaltugenden gerechnet. Die griechischen Philosophen nannten sie Sophrosyne (von sophros, verständig, einsichtig) und verstanden darunter die Tugend der Selbstbeherrschung und weisen Mäßigung. Leider gibt es kein einzelnes deutsches Wort, welches die ganze Bedeutungsvielfalt des griechischen Ausdrucks wiedergibt. Temperantia, die bereits früh verwendete lateinische Übersetzung, welche über das Englische teilweise auch Eingang in die deutsche Sprache (Temperenz) gefunden hat, kommt von temperare, das auch so verstanden werden kann: «aus verschiedenartigen Teilen ein einiges geordnetes Ganzes fügen». Damit wird bereits angedeutet, dass es bei Mäßigkeit auch darum gehen kann, einen Ausgleich von unterschiedlichen Interessen und Motivationen zu schaffen.
Keine Frage, die digitalen Medien haben unser Leben auf der einen Seite ziemlich erleichtert. Zunächst war es der PC, das Notebook oder das Tablet. In den letzten Jahren kam auch noch das Smartphone hinzu. Mit diesem geht ja inzwischen fast alles sogar unterwegs auf der Straße oder im Auto. Es hilft mir, mit meinem guten Freund in Kanada per WhatsApp kostenlos zu telefonieren, 1000 andere Freundschaften über Facebook mit neuen Posts zu pflegen oder durch Google Maps meinen Weg zur nächsten Tankstelle zu finden.
Worum geht es?
Als Piktogramm für Mäßigkeit steht eine Waage. Mäßigkeit hat mit einem ausgewogenen Gleichgewicht, mit Maßhalten und damit mit Messen zu tun. Dabei geht es nicht nur um das Halten eines guten Körpergewichts, nicht nur um Essen und Trinken, um den Konsum von Alkohol, Nikotin oder illegalen Drogen. Es geht auch um das Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit, unseren Medienkonsum, den Einsatz unserer Mittel (Geld, Kraft, Einfluss), unser soziales Engagement und vieles mehr. «Messen» kann nun hier durchaus ein zweideutiger Vorgang sein, denn es kommt nicht nur darauf an, was wir messen, sondern auch mit welchem Maßstab wir messen, also womit wir uns oder unser Verhalten vergleichen. Will ich mich an dem orientieren, was häufig ist (persönlicher Geschmack, Vorlieben), oder lieber an dem, was gut für mich und andere ist? Wähle ich also als Maßstab das «Normale» oder das Ideale? Will ich sein wie die anderen? Anders gefragt: Soll deren Verhalten über mein Verhalten bestimmen? Oder wähle ich einen anderen Bezugspunkt, z. B. das «Gute», das «Sinnvolle », die Auswirkungen auf meine Gesundheit? Letzteres ist allerdings nicht immer einfach. Oft stellt uns das Leben nicht vor eine Wahl zwischen Schwarz oder Weiß, Gut und Böse, Schädlich und Gesund. Würden Sie sich eher als vorsichtigen oder als mutigen Menschen bezeichnen? Gehen Sie mit Ihrem Geld eher sparsam um oder großzügig? Legen Sie in Konfliktsituationen mehr Wert auf Ehrlichkeit oder auf Höflichkeit, auf Wahrhaftigkeit oder Verständnis, überwiegt Ihr Wille zur Selbstverwirklichung oder Ihr Gemeinschaftssinn? Wahrscheinlich hat es bereits meine Fragestellung verraten: Es kann hier nicht einfach um ein Entweder – Oder gehen. Sowohl Ehrlichkeit als auch Höflichkeit, Sparsamkeit und auch Großzügigkeit, Selbstverwirklichung und Gemeinschaftssinn können als erstrebenswerte Tugenden verstanden werden. Allerdings besteht zwischen ihnen oft eine Spannung. Wie können wir fruchtbar damit umgehen? Hilfreich ist, wenn wir erkennen, dass es grundsätzlich zu jeder Tugend auch eine Gegentugend oder Schwestertugend (Prof. Schulz von Thun) gibt. Allerdings kann man es dann auch übertreiben. Jede Tugend kann im Übermaß auch zu einer Untugend werden. Übertriebene Sparsamkeit wird zu Geiz, übertriebene Großzügigkeit zu Verschwendung. Das Übertreiben einer Tugend, also das Abstürzen in die Untugend, ist nun nicht einfach einem Zuviel des Guten geschuldet, sondern eher einem Mangel der Schwestertugend. Der Geizige muss also nicht einfach lernen, «weniger sparsam» zu sein, sondern großzügig. Der Verschwenderische muss nicht einfach lernen, «weniger großzügig » zu sein, sondern sparsam. Dieses Prinzip weist auf unsere Entwicklungsmöglichkeiten in allen möglichen «Tugend-Kombinationen » hin.
Mäßigkeit bedeutet
nun das Maßhalten zwischen diesen Positionen. Allerdings kann auch dies unterschiedlich verstanden werden. Der griechische Philosoph Aristoteles hat sich jede echte Tugend als die Mitte zwischen zwei Extremen vorgestellt. Entsprechend diesem Verständnis geht es bei der Mäßigkeit darum, sich immer schön in der Mitte zu positionieren. Weder zu sparsam, noch zu großzügig sein, weder zu viel arbeiten, noch zu viel ruhen, weder zu leidenschaftlich (extremistisch, fanatisch), noch zu gelassen (gleichgültig) sein. Dieses Verständnis könnte aber dazu führen, dass alles zu statisch wird, dass es einem an Bewegung, an Dynamik fehlt. An Armen und Beinen haben wir sowohl Streck- als auch Beugemuskeln. Beide sind wichtig. Dabei kommt es aber auf das Zusammenspiel der beiden Muskelgruppen an. Wenn beide jeweils in der Mitte (halbe Spannkraft) verharrten, wären Ellbogen und/oder Kniegelenke starr in einer mittleren Position fixiert. Eine (Fort-)Bewegung wäre nicht mehr möglich. Mäßigkeit kann auch als das Aushalten der Spannung zwischen den beiden Gegensätzen verstanden werden. Wenn sich der Beuger anspannt, muss der Strecker etwas Raum geben und umgekehrt. Nur so ist echte Bewegung (Aktivität) möglich. Der Klangforscher (Geigenbauer und Physikingenieur) Martin Schleske spricht in diesem Zusammenhang vom Prinzip der harmonischen Gegensätze, welche erst die Resonanzen ermöglichen und zum vollen Klang (des gelingenden Lebens) beitragen. Schon der alttestamentliche Philosophenkönig Salomo spricht von solchen Gegensätzen: Alles hat seine Zeit: Geborenwerden und Sterben, Pflanzen und Ausreißen, Aufbauen und Niederreißen, Suchen und Verlieren, Aufheben und Wegwerfen, Schweigen und Reden, Lieben und Hassen, Krieg und Frieden. Alles hat Gott so eingerichtet, dass es zur jeweiligen Zeit schön ist. Es gibt nichts Besseres, als sich zu freuen und das Leben zu genießen. Wenn ein Mensch isst und trinkt und bei all seiner Mühe etwas Gutes sieht, ist das eine Gabe Gottes (nach Prediger 3).
Mäßigkeit = Verzicht?
Heißt Mäßigkeit, «alles» oder bloß das «Gute» mit Maß zu genießen, unter Einschluss des bewussten Verzichts auf das Schädliche? Die Vertreter der ersten Position beziehen sich dabei oft auf den berühmten Arzt Paracelsus (1493-1541), der erkannt hat, dass viele Krankheiten äußere Ursachen haben. Er soll gesagt haben: «Nur die Dosis macht das Gift». Wenn also jemand weiß, wie er z. B. mit Alkohol umgehen soll, und sich in der Dosis (Menge, Häufigkeit) nicht irrt, so halten sie dies für durchaus in Ordnung. Anders sehen dies die Vertreter der Temperenz- oder Abstinenzbewegung, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erlebte. Während in früheren Jahrhunderten alkoholische Getränke nur in beschränktem Umfang zur Verfügung standen, waren sie nun aufgrund neu entwickelter Produktionsmethoden (Destillier- und Brennverfahren) zur günstigen Massenware geworden. Als Reaktion auf die gravierenden negativen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen des nun weit verbreiteten Alkoholkonsums organisierten sich in dieser damals wichtigen sozialen Bewegung viele Menschen, um den schädlichen Konsum zu bekämpfen. Dabei erkannten sie, dass in diesem Fall Mäßigkeit (Temperenz) mit Verzicht (Abstinenz) auf Alkoholkonsum gleichzusetzen war. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Bewegung in der Schweiz war der bekannte Zürcher Psychiater, Gehirnforscher und Ameisenkenner Prof. Dr. Auguste Forel (1848-1931), dessen Porträt während Jahren auf der schweizerischen 1000er-Banknote abgebildet war. Er gilt als Vater der Schweizer Psychiatrie. Als Chefarzt einer psychiatrischen Universitätsklinik und Initiator einer Trinkerheilstätte kannte er sich mit den körperlichen, seelischen und sozialen Folgen des Konsums von Suchtmitteln gut aus. Deshalb forderte er 1890 in einer Rede vor Studenten: «Die vollständige Abstinenz muss sich auf alle Gifte erstrecken. Selbst mit den sozial ungefährlichen Getränken … ist im Interesse des individuellen Wohlseins wenigstens Maß zu halten. Das natürliche, normale Getränk des Menschen … ist das Wasser». Paradoxerweise liegt Forel damit viel näher bei Paracelsus als die Vertreter des mäßigen Trinkens, die dessen Aussage oft verzerrt wiedergeben. Paracelsus hat nämlich gesagt: «Alle Ding‘ sind Gift und nichts (ist) ohn‘ Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding‘ kein Gift ist.» Konkret: Auch an und für sich gesunde und lebensnotwendige Dinge wie Wasser oder Sauerstoff können im Übermaß «giftig», also schädlich werden. Etwas grundsätzlich Schädliches wird aber nicht plötzlich gesund, nur weil es in einer geringen Dosis zu sich genommen wird. Dies gilt unabhängig davon, ob das Gift in der Natur vorkommt (z. B. giftige Pilze, bakterielle Toxine) oder vom Menschen teilweise oder ganz synthetisch (Drogen, Insektizide etc.) hergestellt wird. Die Wissenschaft bestätigt Interessanterweise wird dieser Sachverhalt auch in Bezug auf den Konsum von Alkohol durch aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen zunehmend bestätigt. Dessen krebsfördernde Wirkung ist bereits ab 1 Drink / Tag nachweisbar, und selbst die in zahlreichen Studien festgeschriebene und jahrzehntelang behauptete herz und gefäßschützende Wirkung eines (regel-)mäßigen Konsums wird heute von vielen Forschern eher der mangelhaften Qualität der Studien als dem Alkohol zugeschrieben. Führende Gesellschaften von Herzspezialisten (z. B. USA, Australien) empfehlen deshalb heute niemandem mehr aus gesundheitlichen Gründen zum Konsum von (auch nur geringen Mengen) Alkohol. Mäßigkeit bedeutet also im Zusammenhang mit schädlichen Stoffen oder Verhaltensweisen, am besten ganz darauf zu verzichten. Das Gute dagegen darf maßvoll genossen werden. Dies jedoch ist nun keine halbherzige Angelegenheit. Wer um die Spannung zwischen zwei Tugenden weiß und diese aushalten kann, wird das Gute auf beiden Seiten genießen. Er wird von ganzem Herzen mit den Fröhlichen lachen und mit den Traurigen weinen. Er weiß, dass ihm zwar alles erlaubt, aber nicht alles gut für ihn ist. Sein Maßhalten lässt ihn sein Leben so gestalten, dass es gelingt.
Dr. med. Ruedi Brodbeck
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM, Diplom für Biblische Theologie und Pastoralarbeit
Leben & Gesundheit Ausgabe 5/2016