Waldluft- Die Heilkraft der Bäume
Bedeutung des Waldes
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten, und die Urbanisierung nimmt weiter zu. Die gesundheitlichen Risiken, die mit Verkehrslärm, Umweltverschmutzung und der teils erdrückenden baulichen Umwelt einhergehen, sind laut zahlreicher Studien in Städten ausgeprägter als auf dem Land. Viele dieser Faktoren verstärken den ohnehin schon präsenten Stress im Alltagsleben. Die WHO erklärt Stress zu einer der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts. Dass Stress nicht nur das Immunsystem schwächt, den Blutdruck in die Höhe treibt und einen Infarkt auslösen kann sowie mit einigen Krebserkrankungen in Verbindung steht, zeigten britische Forscher in einer Studie aus dem Jahr 2017. Diese belegt, dass gestresste Menschen ein vierfaches Risiko tragen, an Leukämie zu erkranken; bezüglich Speiseröhren- oder Prostatakrebs ist es 2,5 Mal und hinsichtlich Darmkrebs doppelt so hoch. Im Gegensatz zu städtischen Gebieten nehmen Naturlandschaften an Bedeutung zu. Seit einigen Jahren wird das aus Japan stammende Waldbaden in der westlichen Welt zum neuen Trend. Hierzu erscheinen vermehrt Anleitungen in diversen Online-Artikeln und Büchern. Sogar zum Waldtherapeuten kann man sich ausbilden lassen. Doch was ist an diesem «fernöstlichen» Hype dran, und ist die medizinische Wirkung des Waldes mit wissenschaftlichen Studien belegbar?
Ursprung des Waldbadens
Der Ursprung des etwas eigenwillig klingenden Begriffs «Waldbaden» ist schnell erklärt: Das Wort ist eine Übersetzung aus dem japanischen «Shinrin-yoku», was «Baden im Wald» bedeutet. Das japanische Ministerium für Landwirtschaft, Forst und Fischerei, welches diesen Begriff 1982 einführte, investierte hohe Summen in ein Forschungsprogramm mit dem Zweck, die medizinische Wirkung eines Aufenthalts im Wald nachzuweisen. Im Jahr 2007 öffnete das erste Zentrum für « Waldtherapie» seine Pforten, und fünf Jahre später boten japanische Universitäten eine fachärztliche Spezialisierung im Bereich der «Waldmedizin» an. Waldbaden ist seither fester Bestandteil ihres Lehrplans. Es trägt zu einem gesunden Lebensstil bei und ist in die staatliche Gesundheitsverordnung eingebettet. Dort gibt es den Wald auf «Rezept» – doch auch in den USA und Südkorea wird die Therapiemethode anerkannt.
Waldtherapie-Waldbaden
International einigte man sich auf den Begriff «Waldtherapie». In der praktischen Begriffsnutzung sollte auf landesspezifische Einschränkungen geachtet werden, da in vielen Ländern die Begriffe «Therapie» bzw. «Therapeut» nur mit fachlicher Ausbildung und bestimmten Voraussetzungen verwendet werden dürfen. «Waldbaden» kann jedoch ohne therapeutischen Hintergrund von jedem Menschen betrieben werden. Darunter versteht man ein Behandlungskonzept, das den Schwerpunkt auf das Naturerleben in Verbindung mit Aktivitäten in natürlicher Umgebung legt und auch Pflanzen und Tiere mit einbezieht. Im Idealfall spricht ein Aufenthalt im Wald alle fünf Sinne an – mittels der Gerüche des Waldes, der Tier- und Windgeräusche, des Ertastens des Waldbodens, der Kräuter oder Beeren und der unterschiedlichen Lichtverhältnisse, die im Wald herrschen. Im Gegensatz zur Esoterik und zu den Pseudowissenschaften, die den ungeschützten Begriff ebenfalls für sich gebrauchen, liegen der Waldtherapie Forschungsnachweise zugrunde, mit denen durch spezielle medizinisch- therapeutische Übungen die körperliche und geistige Gesundheit gestärkt werden soll. Diese Therapie ist ein anerkanntes Naturheilverfahren und gewinnt für die Präventivmedizin zunehmend an Bedeutung. Aber kann der Wald mehr als nur Wellness und Wohlfühlatmosphäre hervorrufen? Gibt es medizinische Effekte des Waldbadens und der Waldtherapie, die wissenschaftlich belegbar und nicht nur gefühlt vorhanden sind?
Aktivierung des Immunsystems
Wissenschaftler stellten in der Atmosphäre des Waldes eine erhöhte Konzentration von Terpenen fest. Das sind bestimmte Kohlenstoff-Wasserstoff- Verbindungen, die u.a. der pflanzlichen Kommunikation dienen. Sogenannte Phytonzide, die in den Terpenen enthalten sind, sind explizit für den Schutz vor Krankheitserregern und Schädlingen verantwortlich. In ihrer Wirkung ähneln sie Antibiotika, wirken jedoch nicht nur abtötend, sondern auch regulierend. Diesen Phytonziden wird eine Wirkung auf unseren Körper zugeschrieben, da unser Immunsystem diese Stoffe entschlüsseln kann. Laut Professor Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio stärken diese gasförmigen Verbindungen unsere Abwehrkräfte. Die Terpene kommen über die Lunge oder die Haut in den Blutkreislauf. Das limbische System in unserem Gehirn reagiert darauf mit der Freisetzung von Hormonen und Neurotransmittern, welche eine positive Wirkung auf unser Immunsystem haben. Der Körper bildet vermehrt weiße Blutkörperchen, die auch Killerzellen genannt werden.
Waldluft kann vor Krebs schützen
Killerzellen neutralisieren nicht nur Keime, sondern auch Krebszellen. Die Produktion der dafür benötigten Anti-Krebs-Proteine wird ebenfalls durch die Waldluft angeregt. In einem Versuch testete Li diese These bei Probanden, die in einem Hotel übernachteten, das mit Waldluft angereichert war. Die Blutuntersuchung zeigte einen deutlichen Anstieg der natürlichen Killerzellen, im Vergleich zur Kontrollgruppe, die in einem Zimmer ohne angereicherte Waldluft schlief. Die Krebsforscherin Roslin Thoppil von der Vanderbilt Universität in Nashville (USA) konnte eine vergleichbare Wirkung feststellen. Ein Waldbesuch von der Dauer eines Tages kann die Bildung von natürlichen Killerzellen im Blut um bis zu 40 % steigern. Laut Studien kann der Effekt bis zu zwei Wochen anhalten. Wenn der Aufenthalt auf zwei Tage ausgedehnt wird, sind es bis zu vier Wochen.
Stressabbau im Wald
Eine Studie an der US-Universität Michigan belegt die Auswirkung von Waldbesuchen auf den Cortisol-Wert. Cortisol wird als Stresshormon bezeichnet. Dauerhaft hohe Cortisol-Werte, etwa durch andauernden Stress, werden mit einer Reihe von Zivilisationskrankheiten in Verbindung gebracht. Probanden sollten bei Tageslicht und ohne elektronische Ablenkungen in den Wald gehen. Eine Speichelprobe wurde den Teilnehmern vor, während und nach dem Waldspaziergang abgenommen. Das Ergebnis war ein deutlich gesenkter Cortisol-Spiegel nach einem 30-minütigen Spaziergang im Wald, der die negativen Auswirkungen des urbanen Lebens sowie des Lebens in geschlossenen Räumen und vor Bildschirmen eindämmen kann. So kann ein Waldspaziergang ausreichen, um den Stresspegel zu senken, die Stimmung aufzuhellen und die Konzentration zu fördern.
Gesundheit für das Herz
Die gesunde Luft des Waldes hat ebenso positive Auswirkungen auf unser Herz-Kreislaufsystem. Das ergab eine Studie, bei der Probanden einstündige Waldspaziergänge durch den Wald unternahmen. Zuvor wurden Blutdruck, Lungenkapazität und Elastizität der Arterien geprüft. Dieser Test wurde nach dem Spaziergang wiederholt und ergab eine deutliche Verbesserung der Werte. Bei Blutuntersuchungen konnte eine Anregung des «Herzschutzhormons» DHEA festgestellt werden. DHEA ist eine Vorstufe des männlichen Androgens sowie des weiblichen Östrogens und wird auch Antistresshormon genannt. Es verlangsamt den Zellstoffwechsel und wirkt dem Cortisol entgegen. Zudem übt es eine schützende Wirkung auf Nervenzellen, Blutgefäße sowie das Herz aus und wirkt koronaren Herzkrankheiten und erhöhtem Blutzuckerspiegel entgegen. Ein Mangel hat zur Folge, dass unser Immunsystem geschwächt wird und die Leistungsfähigkeit abnimmt. Ab dem 30. Lebensjahr und in stressigen Zeiten nimmt die DHEA-Produktion ab. Der Wald wirkt hier als Balsam für Herz und Seele. In diesem Zusammenhang ist die Anmerkung interessant, dass die Kontrollgruppe, die in der Stadt spazieren war, keine dieser aufgezeigten positiven Auswirkungen nachweisen konnte.
Besuch beim Therapeuten „Wald“
Bei psychischen Leiden kann ein 30-minütiger Spaziergang im Wald sehr hilfreich sein. Das betonte Professor Peter Falkai, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Ludwig- Maximilian-Universität München (LMU). Als Minimaldosis gibt er zwei Spaziergänge pro Woche an. Warum Natur positiv auf uns wirkt, haben Psychologen und Wissenschaftler ergründet. Einerseits ist es die Farbe Grün, die Menschen schneller und nachhaltig gesund werden lässt. Die Professorin für Medizinische Klimatologie an der LMU, Angela Schuh, meint andererseits, dass zu dem Grün die Atmosphäre des Waldes, das gedämpfte Licht und die Anwesenheit von Wasser dazu führen, dass wir im Wald zur Ruhe kommen. Der Wald hat dabei eine entschleunigende Wirkung, die kühle Luft vitalisiert, und wir können besser schlafen. Wer in den Wald geht, entschließt sich für einen gewissen Zeitraum, einfach weg zu sein. Diese Entscheidung wird von jedem selbst getroffen. Es gibt weder Stress noch Stau, keinen Feinstaub und weniger Lärm. Der Wahrnehmungs- und Gefühlsapparat wird angenehm stimuliert. Dabei werden natürliche Reize von duftenden Nadeln, Moosflächen und Vogelstimmen meist positiv erlebt. Wer in einen Wald mit Bäumen geht, die seit hunderten von Jahren wachsen, mit mächtigen Rinden und ausladenden Kronen, nimmt sich selbst nicht mehr so wichtig. Ehrfürchtig staunen die «Stadtmenschen», wie die Natur auch ohne uns funktioniert. Hinzu kommt ein gesteigertes Selbstwertgefühl, wenn wir die Herausforderungen meistern – wie man z. B. auf einen Baum klettert, Bäche durchquert oder in der Dämmerung nach Hause geht.
Tipps für den Aufenthalt im Wald
Wer «nur» die gesunde Waldluft nutzen möchte und nicht an Zivilisationskrankheiten und Stress leidet, kann im Wald Sport treiben. Die erhöhte Atemfrequenz führt zu einer höheren Aufnahme der heilsamen Waldluft, und der Nutzen für die Gesundheit kann dadurch erhöht werden. Bei Menschen, die auf der Suche nach Ruhe und Entspannung sind und den gestressten Alltag hinter sich lassen wollen, empfiehlt sich eine Wanderung oder ein Spaziergang in einen ruhigen Wald, der nicht von vielen Menschen frequentiert wird. Monokulturen, also Wälder mit nur einer Baumsorte, sollten gemieden werden. Das Telefon in den Flugmodus und die Erinnerungen auf Stumm schalten sind Selbstverständlichkeiten. Zudem sollten keine alkoholischen oder koffeinhaltigen Getränke konsumiert werden. Bei Gruppenspaziergängen sollte eine stille Zeit eingehalten werden, in der die Teilnehmer ihre Umgebung aktiv hören können. Keiner sollte den Zwang verspüren, ein gewisses Lauftempo einzuhalten. Hier empfiehlt es sich, bewusst langsamer zu gehen, den Blick vom Waldboden zu heben und die vielen Formen und Farben, die es im Wald zu entdecken gibt, wahrzunehmen. So kann das eine oder andere Rascheln einem Tier viel leichter zugeordnet werden. Beim Blick in die Ferne sind die Gedanken weniger am Kreisen, und der Gang ist aufrechter. Dabei kann tief eingeatmet und langsam ausgeatmet werden. Es sollen Pausen möglich sein, um sich an Details zu erfreuen und eine filigrane Pflanze oder die Rinde eines Baumes zu ertasten. Ja, die Natur ist zum Anfassen da. Hierbei kann barfuß durch einen Bach gegangen werden. Bekannte Blätter und Beeren werden gesammelt, oder man setzt sich auf einen Baumstamm. Wiederhole den Spaziergang und investiere etwas Zeit – für dich und deine Gesundheit!
Jonathan Lang
Forstingenieur und staatlich zertifizierter Waldpädagoge
Leben & Gesundheit Ausgabe 6/2020