Ich sehe dich – Über den Weg persönlicher Veränderung

Je länger es dauerte, desto unruhiger wurde ich. «Ich bin nicht hier, um einen Test im geduldigen Warten zu bestehen, sondern um meine Haare geschnitten zu bekommen», dachte ich mir. Ich nahm mir vor, beim nächsten Mal einen Termin auszumachen. Dafür war es nun zu spät. Ich musste warten. Etwas gelangweilt nahm ich eine der Zeitschriften zur Hand, die auf dem Tisch vor mir lagen, und blätterte lustlos darin. Viel zu lesen gab es nicht, denn gefühlt bestand die Zeitschrift nur aus Bildern – aus großformatigen Hochglanzanzeigen und Bildergeschichten von Stars und Sternchen oder solchen, die es gerne sein möchten. Da ich immer noch nicht drankam, blätterte ich mich auch durch die zweite, dritte und vierte Zeitschrift. Obwohl sie unterschiedlich hießen, waren sie alle gleich. Faszinierende Bilderwelten voller gut aussehender Menschen, die mir versprachen, dass ich ebenso gut aussehen und mich auch so gut fühlen könnte, wenn ich dieses oder jenes Produkt kaufen würde. Und dann war da das aufregende Leben der Schauspieler, Sänger und Topmodels, der königlichen Familien und vieler erfolgreicher und glücklicher Menschen aus der High Society.

Ein Schrei

Am Ende dieses Bildermarathons blieb ich mit einem Gefühl zurück, das ich oft empfand, wenn die Glitzerwelt der Stars und der Werbung und mein Alltag aufeinanderprallten – mit einem Gefühl der Leere und der Minderwertigkeit. Kein Wunder, denn die Stars und die Menschen aus der Welt der Werbung sahen viel schöner aus und wirkten glücklicher als ich, und ihr Leben schien so viel spannender als mein eigenes. Kurzum – sie hatten all das, wovon der Rest der Menschheit, mich eingeschlossen, träumte. An jenem Tag vernahm ich aus diesem Mosaik perfekt durchgestylter und ausgeleuchteter Bilder aber noch etwas anderes. Ich hörte einen stummen Schrei danach, «gesehen zu werden». Mir schien, als würden die Menschen auf den Seiten dieser Zeitschriften aus der Tiefe und dem Dunkel der menschlichen Existenz in die Welt hinausschreien: Ich will gesehen werden. SIEHST DU MICH?

Ungestillte Sehnsucht

Die Intensität dieses Schreis machte mir klar, dass es dabei nicht darum ging, dass andere sehen, wie schön, erfolgreich oder begehrenswert man ist. Es ging auch nicht um die Bewunderung der in meisterhafter Perfektion zur Schau gestellten Äußerlichkeiten. Und es ging auch nicht um eine oberflächliche, menschliche Eitelkeit. Ganz im Gegenteil. Ginge es darum, wäre dieser Schrei nicht notwendig gewesen. Denn all das war in dieser Welt reichlich vorhanden. Aber Glanz, Glamour und Glorie in ihrer Fülle und Pracht schienen nicht auszureichen. Schönheit, Erfolg und Reichtum brachten offensichtlich nicht das erhoffte Glück, nicht die gewünschte Erfüllung und auch nicht den notwendigen Frieden. Zurück blieb eine starke, ungestillte Sehnsucht im Menschen, die durch die Risse der Glitzer- und Traumwelten hinausdrang und fragte: Ist jemand da draußen, der mich sieht?

Kein Unterschied

Mit einem Mal hörte ich diesen Schrei auch in meinem Inneren. Nicht nur die anderen trugen diesen Wunsch und diese Hoffnung in sich, sondern auch ich war davon durchdrungen. Es gab keinen Unterschied zwischen den Menschen in den Hochglanzmagazinen und mir. In dem Augenblick ahnte ich, dass diese Sehnsucht allen Menschen gleich ist. Sie ist tief in uns verankert. Alle Menschen wollen «gesehen werden».

Am Anfang

In der darauffolgenden Zeit machte ich mich daran, diese Sehnsucht besser zu verstehen und zu erfassen. «Was war es denn, wonach ich mich bzw. wonach wir uns sehnten?» Bei meiner Suche stieß ich auf die Schöpfungsgeschichte.1 Auf den ersten Seiten der Bibel wird beschrieben, dass Gott das erste Menschenpaar nackt erschuf und sich Mann und Frau trotz ihrer Nacktheit nicht voreinander schämten. Sowohl der Mann als auch die Frau waren gänzlich offen und gänzlich sichtbar. Es gab nichts, was sie zurückhielten und voreinander versteckten. Der Mann nahm seine Frau so an, wie sie war, und sie nahm ihn so an, wie er war. Beide fühlten sich beim anderen geborgen und sicher. Sie hatten keine Angst, dass sich ihr Gegenüber abwenden könnte. Sie konnten sich aufeinander verlassen. Der Mensch war, was er war, nicht mehr und nicht weniger. Körperlich, geistig und seelisch war er vor dem anderen offen und schämte sich nicht – er war nackt.

Die Sehnsucht der Menschen

Das war es. Das musste mit «gesehen werden» gemeint sein. Ich konnte es nicht fassen. In dieser Jahrtausende alten Geschichte wurden meine Sehnsucht und die Sehnsucht der Menschen um mich herum beschrieben. Wir sehnen uns doch alle nach einer Welt, in der wir anderen und uns selbst nichts vorzumachen brauchen, um angenommen und geliebt zu werden – nach einer Welt, in der wir so sein können, wie wir sind, und in der nicht unser Erfolg, unsere Leistung, unser Reichtum, unsere Schönheit und unser makelloser Körper über unseren Wert entscheiden. Wir sehnen uns nach Beziehungen in der Familie, in der Ehe oder am Arbeitsplatz, in der Freizeit und in der Nachbarschaft – nach Beziehungen, in denen wir gänzlich offen sein können, ohne befürchten zu müssen, dass sich die Menschen abwenden und uns zurückweisen. In dieser Geschichte wurde von einer Welt gesprochen, in der Menschen einander «wirklich sehen» und deswegen einander auch wirklich nahe sein konnten. Je länger ich mich mit dieser Welt beschäftigte und mich darin vertiefte, desto stärker wurde meine Sehnsucht nach dieser Welt.

Nähe und Distanz

Die Geschichte der Erschaffung des Menschen verdeutlicht, dass sich der Mensch öffnen muss, wenn er «gesehen» werden will. Die Nähe, nach der sich Menschen sehnen, können sie nur erleben, wenn sie sich sichtbar und damit auch verwundbar machen. Es gibt keinen anderen Weg zu echter Begegnung, als sich «nackt zu machen». Nähe kann nicht aus der Distanz erlebt werden. Jeder wird das bejahen, doch die Erfahrung zeigt, dass wir nur allzu oft versuchen, Beziehungen aus einer sicheren Distanz heraus zu leben, und das gilt für alle Arten von Beziehungen – Ehe, Familie, Freundschaften usw. Gleichzeitig fragen wir uns aber, warum wir in unseren Beziehungen nicht die Tiefe, Nähe und Fürsorge erleben, nach denen wir uns sehnen und die wir auch brauchen, um zu heilen.

Heilung in Beziehungen

Innere Heilung geschieht in Beziehungen. Sich in echten, liebevollen Beziehungen zu öffnen und angenommen zu werden sind Schlüsselfaktoren der Heilung. Unser Gegenüber kann aber nur das annehmen, was wir ihm geben. In der Welt der Dinge fällt es uns nicht schwer, dieses Prinzip nachzuvollziehen und zu bejahen. Jemand kann einen Apfel von mir nur annehmen, wenn ich ihm diesen gebe. Es sei denn, er stiehlt den Apfel, aber davon gehen wir im Normalfall nicht aus. In Bezug auf unser Innenleben und unsere Beziehungen hätten wir es aber gerne anders. Die meisten würden gerne heilen, ohne sich zu öffnen. Doch auch hier gilt: Menschen können nur annehmen, was wir ihnen geben. Wenn wir uns nur teilweise schenken und manches zurückhalten oder zu verstecken suchen, können uns unsere Mitmenschen nicht gänzlich wahrnehmen und auch nicht gänzlich annehmen. Wir werden «nicht ganz gesehen». Infolgedessen kann das, was wir zurückhalten, auch nicht geheilt und versöhnt werden. Und Menschen können Lasten nicht mittragen oder sie uns abnehmen. Die Geschichte des ersten Menschenpaares berührt mich immer wieder neu, weil sich die beiden so ganz und gar hingeben konnten – etwas, womit wir ringen und wovor wir uns auch fürchten.

Trotz Verletzungen

«Kein Wunder, dass es uns nicht leichtfällt, uns zu öffnen», werden viele anmerken. Schließlich haben wir erlebt, dass «sich verwundbar machen» nur allzu oft bedeutet, verletzt zu werden. Deswegen haben sich viele über Jahre und manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg einen Beziehungsstil angeeignet, der eher von Selbstschutz als von Hingabe geprägt ist. Wir lassen andere Menschen nur schwer an uns herankommen, fühlen uns gleichzeitig aber nicht wahrgenommen und wundern uns bzw. sind traurig darüber, dass wir innerlich vereinsamen und austrocknen. Unsere Verletzungen und schlechten Erfahrungen ändern nichts an der Tatsache, dass wir Nähe, Annahme und Heilung nur dann erleben, wenn wir uns in Beziehungen verletzlich machen und öffnen. Das ist nicht einfach. Für niemanden. Aber es führt kein Weg daran vorbei.

Erste Schritte

Welche Schritte sind notwendig? Zunächst einmal bedarf es einer bewussten und unbedingten Entscheidung. Und diese Entscheidung muss immer wieder neu getroffen werden, wenn wir aus Selbstschutz auf Distanz gehen. Wenn uns Menschen verletzen, ist die natürliche Reaktion, sich zu distanzieren und zu schützen. Führt dies aber dazu, dass wir einen Beziehungsstil entwickeln oder in einen solchen zurückfallen, der Menschen nur noch teilweise an uns heranlässt, dann ist es Zeit, sich erneut zu entscheiden. Ich kam und komme manchmal an den Punkt, dass ich mich frage, ob sich der Weg der Verwundbarkeit lohnt. In solchen Augenblicken erinnere ich mich daran, dass «auf Distanz zu gehen» letztlich dazu führt, sich selbst und die Menschen, die man liebt, zu verlieren. Es ist ein Pfad der Einsamkeit und Abschottung. In letzter Konsequenz führen Selbstschutz und Distanz dazu, dass wir das, was das Leben im Kern ausmacht, nämlich Begegnung und Nähe, nicht mehr erleben.

Üben, üben, üben

Ferner braucht es Mut und Ausdauer, sich auf dieses lebenslange Abenteuer der Veränderung einzulassen. Denn unser Beziehungsstil wird sich bis zu unserem Lebensende weiterentwickeln. Unsere Art, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, und unsere Lebensgeschichte werden einzigartig und einmalig sein. Jeden Tag bieten sich unzählige Möglichkeiten, uns darin zu üben, verwundbar und voller Hingabe zu leben. Und das ist auch gut so, denn es braucht viel, viel Übung. Unseren Beziehungsstil können wir nicht wie ein Kleidungsstück an- und ausziehen. Veränderungen brauchen ihre Zeit, und wir sollten nicht enttäuscht sein, wenn sie sich nicht so schnell einstellen, wie wir es uns wünschen. Schließlich geht es um die Gesamtheit des Menschen.

Bedürfnisse und Grenzen

Entscheidend für den Prozess der Veränderung ist das Hinhören. Wir müssen unsere Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer wahrnehmen und uns im Konfliktfall nicht abwenden, sondern aktiv für konstruktive Lösungen einsetzen. Außerdem ist es wichtig, die eigenen Grenzen und die Grenzen anderer zu erkennen, anzunehmen und sie, wenn notwendig, auch zu verteidigen. Dazu gehört, ja und nein sagen zu können und auch das Ja und Nein anderer zu akzeptieren. Gesunde persönliche Grenzen zu entwickeln führt zu einem Leben in und aus Freiheit. Auch der Umgang mit den eigenen Ängsten und Unsicherheiten ist einer der Schlüssel zur Veränderung. Erfolg hierin führt nicht von unseren Ängsten weg, sondern durch unsere Ängste hindurch. Die Autoren der in der Box aufgeführten Bücher haben mich durch ihre hilfreichen Tipps unheimlich weitergebracht. Wer in diesen Bereichen weiterkommen will, dem kann ich diese Bücher sehr empfehlen.

Aus Gnade

Eines möchte ich zum Schluss noch anmerken. Ich glaube, dass wir diesen Weg nur durch die Liebe und Barmherzigkeit dessen gehen können, der das erste Menschenpaar geschaffen hat. Durch ihn erleben Menschen eine echte Veränderung. Nichts hat mich so gestärkt und mir Mut und Kraft zur Veränderung verliehen wie das Ruhen in seiner Barmherzigkeit. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen alles Gute auf Ihrem persönlichen Weg.

Klaus Popa

Geschäftsführer STIMME DER HOFFNUNG

Leben & Gesundheit Ausgabe 5/2015