Die Heilkraft der Vergebung
Das Leben ist schwierig. Es gelingt nicht einfach automatisch. Es gehört zur Realität jedes Menschen, dass er verletzt oder gekränkt wird. Manchmal geschieht dies ohne Absicht, und trotzdem tut es weh.
Ein Psychotherapeut hat diese Beobachtung folgendermaßen wiedergegeben: «Viele Patienten schleppen jahrelang nicht verheilte seelische Wunden mit sich herum, die ihnen von Verwandten oder Freunden meist ohne böse Absicht, eher in Gedankenlosigkeit oder Angst zugefügt wurden.»
Bewusster Umgang ist gefragt
Besitz, Ehre und Lust sind die drei klassischen Bereiche, wo Kränkung geschieht. Mit Kränkungen kann man unterschiedlich umgehen: Verdrängung, Abspaltung, Amnesie können z. B. die Bedeutung der traumatischen Erfahrung für das eigene Leben verdecken. Seelische Verletzungen, mit denen wir nicht bewusst umgehen, beeinflussen uns unbewusst. Was kränkt, macht krank, sowohl den Betroffenen wie auch seine Beziehungen.
Krankheit und Beziehungsstörungen können viele Ursachen haben. Oft sind sie multifaktoriell bedingt, d.h. mehrere Ursachen wirken an der Entstehung mit. Eine häufige Ursache wird allerdings oft nicht beachtet: Unvergebenheit – der Zustand fehlender Vergebung.
Seit Jahrtausenden (vgl. Psalm 32) ist der Zusammenhang zwischen Sünde/Schuld (oder eben Unvergebenheit) und Krankheit bekannt. Indem Jesus (Markus 2,1ff.) einem Gelähmten zuerst Vergebung seiner Schuld zuspricht, bevor er ihn heilt, weist er auf die heilende Wirkung von Vergebung hin.
Vergebung wissenschaftlich erforscht
Erst seit wenigen Jahrzehnten wird Vergebung wissenschaftlich erforscht. Nicht zu vergeben, bedeutet, ärgerlich, wütend und verletzt zu bleiben. Dies setzt unseren Körper anhaltend einem erhöhten Stresspegel aus, was mit einem erhöhten Blutdruck, einer erhöhten Muskelspannung und anderen körperlichen Auswirkungen sowie einem erhöhten Risiko für seelische Erkrankungen einhergeht. Unsere Gedanken und Gefühle werden durch Vergebung oder Nichtvergebung beeinflusst, und sie beeinflussen ihrerseits verschiedene Körpersysteme wie Nerven, Hormone und das Immunsystem entweder in Richtung Gesundheit oder Krankheit.
Eine vor wenigen Jahren in den USA durchgeführte repräsentative Untersuchung an über 43 000 Teilnehmenden hat ergeben, dass Menschen, die entweder sehr lange brauchen, um jemandem vergeben zu können, und/oder die gegenüber vielen Menschen nicht vergeben konnten, im letzten Jahr vor der Untersuchung deutlich häufiger wegen Krankheiten behandelt werden mussten. Herzkrankheiten wurden 1.5 bis 2 Mal so häufig beobachtet, psychische Störungen wie Depressionen, Phobien, Angst- und Panikstörungen waren gar 2–6 Mal so oft.
Die heilende Wirkung von Vergebung wurde durch verschiedene Untersuchungen belegt. Vergebung kann das allgemeine Wohlbefinden steigern, Schmerzen lindern, den Verlauf von Herzkrankheiten günstig beeinflussen, Symptome von posttraumatischen Belastungsstörungen verringern, den Erfolg bei Paartherapien verbessern und sterbenden Patienten helfen, mit Ärger umzugehen und damit ihre Hoffnung und Lebensqualität stärken. Vergebung ist dabei hilfreich für ältere und jüngere Menschen, für Katholiken und Protestanten, bei körperlichen, sozialen und seelischen Problemen. Die Wirkung ist unabhängig vom Geschlecht und wohl auch unabhängig von der vorliegenden Erkrankung.
Vergebung betrifft Täter und Opfer
In seinem Mustergebet verknüpft Jesus die Bitte um Vergebung mit unserer Bereitschaft, selber zu vergeben. Wir sollen weder unsere eigene Schuld mit uns herumschleppen, noch die Schuld anderer nachtragen. Schuld begünstigt Krankheit nicht nur dort, wo wir schuldig geworden sind und als «Täter» selber der Vergebung bedürfen, sondern auch dort, wo andere an uns schuldig geworden sind und wir als «Opfer» zur Vergebung herausgefordert sind.
Vergebung kann auf verschiedene Weise gelingen. Wenn ich Patienten oder Zuhörer meiner Vorträge nach ihren Erfahrungen mit Vergebung befrage, stelle ich immer wieder fest, dass praktisch jedermann bereits erlebt hat, wie hilfreich, wohltuend und befreiend Vergebung ist. Allerdings entspricht es auch einer kollektiven Erfahrung, dass Vergebung manchmal sehr schwierig ist und trotz gutem Willen nicht richtig gelingen will.
Was nun, wenn ich vergeben will, der Schmerz aber zu tief sitzt, um vergeben zu können? Was ist, wenn ich gar nicht vergeben will, aber intuitiv weiß, dass ich ohne Vergebung nicht frei und heil werden kann? Was, wenn ich merke, wie nicht vergebene Schuld meine Beziehungen wie Rost zerfrisst oder sich wie eine Mauer (vgl. Jesaja 59,2 – Gute Nachricht) dazwischen stellt? Bleiben da bloß Resignation und lebenslanges Leiden?
In solchen Fällen ist es hilfreich, strukturiert an den Vergebungsprozess heranzugehen. Dabei können verschiedene Dimensionen der Vergebung unterschieden werden:
Verschiedene Dimensionen der Vergebung
- Die intrapersonale Vergebung bezeichnet den innermenschlichen (intrapsychischen) Vorgang des Loslassens, der uns vom negativen Einflussbereich des Täters befreit. Dieser Vorgang ist zwar an gewisse Voraussetzungen gebunden (Bewusstmachung der eigenen Verletzung, der erlebten Gefühle, Beschreibung des Geschehens, bewusste Entscheidung zur Vergebung), ist jedoch ohne irgendwelche Bedingungen an den anderen möglich. Verschiedene Werkzeuge helfen, diesen Prozess erfolgreich zu durchlaufen.
- Die interpersonelle Vergebung bezeichnet die zwischenmenschliche Ebene, wo man sich gegenseitig Vergebung zuspricht. Während einseitige Vergebung im Sinne des Loslassens immer und ohne Bedingungen möglich ist, sind an die Versöhnung gewisse Bedingungen geknüpft. Versöhnung baut auf Vergebung auf, ist aber wesentlich mehr als Vergebung. Bei der Versöhnung geht es nämlich um das Wachsen von Vertrauen, das zerstört worden ist. Beide Partner müssen ihre Schuld eingesehen haben, müssen sich gegenseitig vergeben haben (also den intrapersonalen Vergebungsprozess durchlaufen haben) und müssen gewillt sein, die Beziehung fortzusetzen und ihr Verhalten zu ändern, also die Verletzung nicht zu wiederholen. Es ist schlicht nicht möglich, jemandem zu vertrauen, wenn man damit rechnen muss, gleich wieder verletzt zu werden.
- Als existenzielle oder transzendente Vergebung wird Vergebung gegenüber Gott oder der Gesellschaft bezeichnet.
Grundlagen der Vergebung
Die heilende Kraft der Vergebung erfahren wir, wenn wir uns auf die intrapersonale Vergebung konzentrieren, welche der Eckstein jeder Vergebungsarbeit ist. Dabei ist es wichtig, dass wir uns gedanklich konkret mit der erlittenen Verletzung beschäftigen:
Was ist genau passiert? Was hat dies bei mir ausgelöst? Wie bin ich damit umgegangen? Manchmal ist der gewählte Umgang noch schädlicher als die Verletzung an sich. Welche Gefühle habe ich damals empfunden, als es geschah, welche empfinde ich jetzt, wenn ich daran denke?
Vergebung ist harte Arbeit. Vorschnelles Vergeben ist eher eine Art Selbstbetrug und nicht hilfreich. Ich muss zulassen, dass ich den Schmerz und vielleicht auch die Wut (erneut?) spüre. Allerdings bleibe ich nicht dort stehen.
Ich entscheide mich bewusst dagegen, dass mein Leben länger durch das Unrecht bestimmt wird, das mir angetan worden ist. Ich will frei werden von der negativen Bindung an den Verletzer/Täter. Ich will nicht mehr «Nach-tragen-müssen», meine Lebenszeit und – kraft dem Täter weihen. Ich will loslassen können. Aphiemi, das griechische Wort, welches im Neuen Testament für Vergebung benutzt wird, bedeutet genau dies. Deswegen beschäftige ich mit bewusst mit dem Vergebungsprozess. Es gilt, mir Basiswissen über den Vergebungsprozess anzueignen, denn manchmal machen falsche Konzepte, falsche Vorstellungen von Vergebung das Vergeben schwer oder gar unmöglich. Was bedeutet Vergeben und was nicht?
Vergeben hat nichts zu tun mit Vergessen, mit Gutheissen einer schlechten Tat, mit Beschönigen oder Verneinen dessen, was passiert ist, mit der Erlaubnis es wieder zu tun, oder mit Begnadigen. Vergeben ist auch nicht das gleiche wie Versöhnen. Vergeben ist nicht Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke.
Vergebung ist ganzheitlich
Vergebung betrifft den ganzen Menschen. Auf der Verstandesebene geht es darum, Schuld aufzuarbeiten, neu zu deuten und zwar im Bewusstsein eigener Schuld. Auch ich brauche Vergebung, auch ich habe Fehler gemacht. Das, was der andere mir angetan hat, ist vielleicht gering, im Vergleich zu meiner Lebensschuld. Dieses Relativieren hilft mir, auf mein vermeintliches Recht, Rache zu üben, und auf meine Illusion, selber Gerechtigkeit herstellen zu können, zu verzichten.
Auf der Gefühlsebene geht es darum, Gefühle als Quelle von Informationen anzusehen, mich aber davon nicht überwältigen zu lassen. Ärger zeigt mir, dass etwas nicht stimmt, löstaber das Problem nicht. Er fordert mich auf, mich mit dem, was nicht stimmt, zu beschäftigen. Die Ursachen des Ärgers liegen oft in Fehlbewertungen oder falschen, nicht durchsetzbaren Erwartungen meinerseits. Ein Perspektivenwechsel oder ein «Reframing» sind hier hilfreiche Werkzeuge.
Auf der Verhaltensebene geht es darum, dass ich mein Verhalten an meinen Zielen ausrichte. Ich will mich nicht durch das Verhalten anderer bestimmen lassen. Zu guter Letzt gibt es die spirituelle Ebene: Loslassen, Gott handeln lassen. Gerade bei sehr schweren Verletzungen ist diese Delegation oft sehr hilfreich.
Persönliche Anwendung
Wie geht es Ihnen, wenn Sie diese Zeilen lesen? Können Sie bei sich nicht vergebene, nicht geheilte Verletzungen feststellen? Dann entscheiden Sie sich für den Weg der Vergebung! Legen Sie das Ziel fest und gehen Sie Schritt für Schritt vorwärts! Wenn nötig, suchen Sie Hilfe! Dies kann bei einem erfahrenen Berater sein oder auch durch die Teilnahme an einem der Vergebungsseminare, welche regelmäßig durch die Liga Leben und Gesundheit angeboten werden.
Vergebung- der einzige Weg
Wo es an Vergebung fehlt, da brechen Gemeinschaften auseinander. Dort wo jemand verletzt wird, leidet auch die Beziehung. Und wie es der deutsche Psychiater Martin Grabe gesagt hat, ist Vergebung «der einzige Weg, gestörte Beziehungen wieder heil werden zu lassen; sowohl in unserem Verhältnis zu Gott als auch zu unseren Mitmenschen und uns selbst.»
Vergeben ist eine Fähigkeit, die man lernen kann. Vergeben lernen gleicht einer Reise, die sich lohnt. Wer vergibt, wird frei. Das wünsche ich Ihnen.
Dr. med. Ruedi Brodbeck
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM, Diplom für Biblische Theologie und Pastoralarbeit
Leben & Gesundheit Ausgabe 6/2019