Die Krux mit dem Selbstwertgefühl und wie es Beziehungen beeinflusst

Wer bin ich? Was kann ich? Was bin ich wert? Wie schätzen andere mich ein? Wie sehe ich mich im Vergleich zu anderen? Was schätze ich an mir? Was ist das Besondere an mir? Wo liegen meine Fähigkeiten und Begabungen? Wo habe ich auch Grenzen? Empfinde ich meine eigene Würde? Wie gehe ich mit ihr um? Das Selbstwertgefühl hat einen großen Einfluss auf unsere Befindlichkeit und darauf, wie wir Beziehungen zu anderen gestalten und mit uns selbst umgehen.

Zwischen Hochstapeln und Tiefstapeln

Das Bild, das wir von uns entwickeln, hängt von unserem Selbstwertgefühl ab. Wir Menschen pendeln gerne zwischen etwas übertriebener Selbsterhöhung und schmerzhaften Selbstzweifeln. Wir schwanken zwischen Hoch- und Tiefstapeln. Zu viel und zu wenig Selbstwertgefühl über- oder unterschätzt die Realität. Nur – wie finden wir die realistische Mitte? Viele kämpfen gegen Selbsteinschätzungen, die sich im Laufe ihres Lebens oft zur tiefen Überzeugung eingebrannt haben, «nicht genug» oder «wertlos» zu sein. Dementsprechend lassen sie sich von anderen abwertend behandeln, gehen weniger fürsorglich mit sich selbst um und zweifeln an ihren Fähigkeiten. Wer kein ausgeprägtes Gespür für sich selbst, für seine Identität, seine Kompetenzen, seinen Wert und seine Würde entwickelt, hat in turbulenten Zeiten schlechtere Voraussetzungen, um Herausforderungen zu begegnen und sich etwas zuzutrauen. Personen machen sich so angreifbarer und verletzbarer. Auch eine zu stark ausgeprägte Beachtung des eigenen Selbst kann zu erheblichen Problemen führen – zu Selbstüberschätzung, mangelnder Sympathie, mangelndem Verantwortungsgefühl bis zu aggressivem Einfordern von Beachtung, wodurch das Geltungsbedürfnis zu Selbstsucht und Selbstgefälligkeit ausartet. Eine Welt, in der sich alles um sich selbst dreht, ist sehr klein und letztlich arm und eng. Das Gegenüber fühlt sich dabei nicht geachtet und zieht sich zurück.

Wie Frauen und Männer ihr Selbstwertgefühl aufbauen

Männer nähren ihr Selbstwertgefühl oft dadurch, dass sie sich mit anderen vergleichen. Oft genügt es ihnen auszuloten, ob sie besser sind als andere. Dann sind sie mit sich selbst zufrieden. Der soziale Vergleich scheint ihnen sehr wichtig zu sein, d. h. Männer sind eher zufrieden, wenn sie sehen, dass sie höhere Kompetenzen haben oder zu besseren Lösungen kommen als andere. Frauen werden in Beziehungen viel stärker von Rückmeldungen berührt. Für sie ist es wichtig, anerkannt und verstanden zu werden. Daraus schöpfen Frauen Energie, was sie mit sich selbst zufrieden macht.

Beide Strategien haben ihre Tücken und Grenzen. Obwohl soziale Vergleiche in unserer Gesellschaft unvermeidlich sind und ständig stattfinden, sind sie dennoch problematisch und müssen immer wieder bewusst in Frage gestellt werden. Beide Strategien machen von der Anerkennung anderer oder von Vergleichen abhängig. Wenn ich meinen Selbstwert daraus ziehe, attraktiver, erfolgreicher oder sportlicher als andere zu sein, werde ich mit zunehmendem Alter verunsichert, und die Verarbeitung eines Misserfolgs wird schwieriger. Scheitern wird sehr bitter und bringt tiefe Selbstzweifel. Zudem können Selbstwertschwache einen Erfolg oft kaum genießen. Sie entwickeln eine vermeidende Strategie, die größeren Herausforderungen aus dem Weg geht. Das Scheinwerferlicht wird gemieden und das eigene Licht unter den Scheffel gestellt. Sie fühlen sich wohler im Hintergrund, im Schatten oder hinter dem Vorhang. Den Selbstwert von Komplimenten oder der Anerkennung abhängig zu machen bringt ebenfalls Nachteile. Menschen mit starken Selbstzweifeln sind unsicher. Sie sind auf ständige Bestätigung angewiesen, die auch als fordernd erlebt werden kann. Dies belastet Partnerschaften und Freundschaften. Was passiert, wenn sich Freunde zurückziehen, wenn eine Partnerschaft zerbricht oder es zu Konflikten in der Familie oder mit Nahestehenden kommt? Selbstwertschwache können sich oft nicht vorstellen, dass jemand sie wirklich liebt und wertschätzt. Sich auf Nähe einzulassen birgt das erhöhte Risiko in sich, abgelehnt zu werden. Also gehen sie Kompromisse ein, die sich längerfristig für sie negativ auswirken, statt in einen Konflikt einzutreten. Übrigens haben auch Selbsteinreden, sogenannte «selbstaffirmative Formeln» wie: «Ich bin toll, ich bin stark, ich bin etwas Besonderes», eine begrenzte Wirkung. Selbstsichere fühlen sich dadurch noch stärker, Selbstwertschwache aber noch schlechter, wenn die Einreden nicht ihren Gefühlen entsprechen und sie sich dadurch zusätzlich Schuld bzw. Schamgefühle aufhalsen. Sie kommen sich als Versager vor, wenn sie etwas erleben, bei dem sie diesen Selbsteinreden aus eigener Sicht nicht entsprechen. Diesen direkten Methoden, über Lob, Vergleichen und Selbsteinreden das Selbstwertgefühl zu heben, sind deutliche Grenzen gesetzt.

Das Selbstwertgefühl als eine Art «Baseline»

Damit kommen wir zur Frage, ob es ein positives Selbstwertgefühl, eine Art Baseline des Selbstwertgefühls, das über Lob oder Kritik, Erfolg oder Scheitern, Bewunderung oder Ablehnung steht, überhaupt gibt. Psychologen sprechen vom Selbstwertgefühl eher als einer grundlegenden Fähigkeit, sich selbst zu mögen, so wie man ist – mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen, mit den eigenen Erfolgen und Misserfolgen, den Kompetenzen und Schwächen. Damit kann das Annehmen von Grenzen Ausdruck eines positiven Selbstwertgefühls sein. Ich muss sie nicht leugnen, weil sie mir zu bedrohlich würden, sondern kann dazu stehen und allenfalls daran arbeiten. Aber meine Würde und mein Wert hängen nicht von Leistungen ab. Ich liebe andere nicht aufgrund ihrer Leistungen, sondern «unbedingt», d. h. als das, was sie sind. Sie dürfen sein – und ich darf sein.

Wie ein positives Selbstwertgefühl entsteht

Ein relativ stabiles Selbstwertgefühl erwächst aus einer sicheren Bindung zu Mutter, Vater und weiteren wichtigen Bezugspersonen, die dem Kind unbedingte Zuwendung schenken. Frühe positive Erfahrungen sind die Grundlage für ein stabiles Selbstwertgefühl. Dieses beruht vor allem auf 3 Säulen:

  • Ich werde geliebt, so wie ich bin, d. h. ich muss mir Liebe und Zuwendung nicht über Leistung verdienen.
  • Ich kann etwas. Hierzu sind ehrliche Rückmeldungen von Eltern oder Bezugspersonen hilfreich, ebenso die Förderung von Kompetenzen.
  • Ich entwickle ein differenziertes Bewusstsein für Werte, die mir zeigen, was richtig oder falsch ist, was sich konstruktiv oder destruktiv auswirkt.

Und wie kann ich als Erwachsener ein positives Selbstwertgefühl entwickeln? Wir haben gesehen, dass die direkten Versuche mit Selbsteinreden, Selbstbekräftigungen, Vergleichen sowie die Ausschau auf Anerkennung zwar etwas beitragen, jedoch ihre klaren Grenzen haben. Ein erster Schritt besteht darin, sein Problem und dessen Dynamik zu erkennen. So erweitern sich die Möglichkeiten, anders mit den negativen Gedanken umzugehen. Oft hilft es, Situationen mit Aufmerksamkeit zu beobachten. Was läuft ab? Wie meinte der andere eine Aussage wirklich? Damit werden selbstabwertende Annahmen überprüft. Das führt zu neuen, realistischeren Einsichten. Nicht alles ist persönlich gegen mich gerichtet. Gibt es Persönlichkeitsmerkmale, die negative Auswirkungen haben, geht es erst einmal darum zu verstehen, was da bei mir abläuft, welche Geschichte diese Eigenschaft hat. Dann überlege ich, wie ich mit den damit verbundenen Herausforderungen besser umgehen kann. Vielleicht lohnt es sich, Unterstützung bei guten Freunden zu suchen. Die Devise lautet: «Less hoping, more coping», d. h. weniger hoffen, dafür aber Herausforderungen annehmen und Bewältigungsstrategien entwickeln. Indirekt wird sich das auf das Selbstwertgefühl auswirken.

Die Forschung zeigt, dass zwar ein geringes Selbstwertgefühl belastend ist und die Befindlichkeit beeinträchtigt, dass es sich jedoch nicht so negativ auf den Lebenserfolg auswirkt, wie früher angenommen wurde. Es braucht psychische Kraft, negative Gedanken zu unterbrechen und sich nicht in eine Abwärtsspirale verwickeln zu lassen. Es ist also eine indirekte Bewältigung der Selbstabwertung in den täglichen Herausforderungen gefragt. Es kommt darauf an, dies wenigstens so gut in den Griff zu bekommen, dass man die Zeit, in der man sich überflüssige Sorgen macht und sich minderwertig oder zurückgewiesen fühlt, möglichst verkürzt. Ein Gedankenstopp kann helfen, aus der Spirale mit Grübeln, Selbstzweifeln und Selbstkritik auszusteigen und dann seine Aufmerksamkeit auf etwas Positives zu richten – z. B. auf positive Erfahrungen, die auch zum Leben gehören.

Auf einem College wurden zwei Selbstwertzweifler im Internat in einem Zimmer untergebraucht. Einer der beiden bekam die Aufgabe, sich bewusst vorzunehmen, den Mitbewohner in seinen Herausforderungen zu unterstützen, zu ermutigen und ihm zu helfen. Sehr bald unterstützten beide einander. In kurzer Zeit verbesserte sich das Selbstwertgefühl beider Jugendlichen deutlich. Aktives Helfen erwies sich als starke Medizin gegen Selbstzweifel.

Zudem ist es hilfreich, Selbstmitgefühl und Selbstnachsicht durch Achtsamkeit zu kultivieren, d. h. mit sich selbst zu sprechen wie mit einem Freund: ehrlich, unterstützend, hilfreich, nachsichtig und verständnisvoll. Im inneren Dialog gibt es manchmal einen äußerst strengen Richter. Es gilt, seinen Einfluss zurückzustutzen, aufmerksam zu beobachten, was im Selbstgespräch vor sich geht, und eine Haltung des Nichtwertens, des Verstehens von Gedanken und Gefühlen einzunehmen. Es geht darum, wohlwollend zu beobachten, wie ich Situationen erlebe.

Zum Schluss möchte ich etwas mit Geldnoten illustrieren. Welche Note hat mehr Wert? Ob die Note frisch von der Presse kommt oder zusammengedrückt wurde – sie haben beide den gleichen Wert. Auf den Selbstwert übertragen heißt das: Auch, wenn Sie sich gedrückt in ihrem Selbstwertgefühl vorkommen – Ihr Wert als Mensch bleibt gleich!

Daniel Zwiker

M.A., Psychotherapeut ASP mit eigener Praxis

Leben & Gesundheit Ausgabe 6/2015