Eine Frage der Perspektive

Irgendwie hat es sich so ergeben, dass wir am Esstisch fast immer am selben Platz sitzen. Mein Stammplatz ist an der Frontseite und ich liebe ihn. Das ganze Zimmer liegt vor mir, ich kann jedem Anwesenden ins Gesicht schauen und gratis dazu den Blick aus dem Fenster schweifen lassen. So macht mir Essen Freude.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich das erste Mal auf einem anderen Platz saß, weil wir Besuch hatten. Ich saß zwar am selben Tisch, aber mein Blick konnte nicht frei wandern, weil er von der gegenüberliegenden Treppe gebremst wurde. Außerdem drängten sich die Garderobe ins Blickfeld, das Schuhregal und der Staub auf den Treppenstufen. Zu guter Letzt stand auch noch die Badzimmertür offen mit winkendem WC. Und das alles beim Essen! Du kannst dir sicher gut vorstellen, wie wertvoll mir mein Platz ist.

Wir Menschen lieben das Gewohnte, denn damit verbinden wir Bodenhaftung, Harmonie, Beständigkeit und Sicherheit. Wir betrachten die Welt aus unserer Perspektive und meinen, dass unsere Bewertung der Welt richtig ist. Dabei vergessen wir jedoch oft, dass es sich um unsere subjektive, individuelle Sicht handelt und die Wirklichkeit nicht ausschließlich so aussehen muss, wie wir sie selbst sehen. Es fällt uns schwer, liebgewonnene Perspektiven aufzugeben und neue zu entdecken. Und doch bringen gerade sie neue Erfahrungen mit sich. Sie verleihen eine andere Sicht auf das, was anscheinend vertraut ist und sich doch völlig neu präsentiert. Eine neue Perspektive erhält man allerdings nicht, in dem man nur den Betrachtungsausschnitt ändert, sozusagen etwas näher herangeht oder weiter weggeht. In der Fotografie heißt das „Zoomen“.

Für einen Perspektivwechsel muss man sich entscheiden. Mal muss man den Standort wechseln. Das erfordert Ideen, Energie und oftmals auch Mut. Da lege ich mich als Hobbyfotografin schon mal einfach auf den sandigen Waldboden, um eine Ameise beim Lastenschleppen zu fotografieren, klettere eine Leiter hoch, um in ein Vogelnest in der Dachrinne schauen zu können oder wate durch das Wasser, um das fröhliche Wasserplantschen von Kindern einfangen zu können.

Perspektivwechsel rücken etwas in den Fokus, was man vorher nicht wahrgenommen hat. Sie öffnen neue Horizonte, brechen altvertraute Denkmuster auf und tragen die Chance in sich, Vertrautes neu entdecken zu können.

Und das nicht nur in der Fotografie, sondern im ganz alltäglichen Leben. Lege dich doch mal andersherum in dein Bett. Du wirst den Eindruck haben, in einem anderen Schlafzimmer zu sein. Oder gehe einfach rückwärts die Treppe hoch – sie ist viel höher als sonst.

So wie Dinge auf diese Weise eine neue Wertigkeit erhalten, gestaltet sich das auch in den Beziehungen von Mensch zu Mensch. Viele Probleme und Missverständnisse entstehen, weil man immer aus derselben Perspektive heraus argumentiert. Lässt man sich jedoch auf eine Änderung des Blickwinkels ein, dann kann man plötzlich offene Türen sehen, wo vorher nur hohe Mauern waren. Wenn du dich auf Augenhöhe eines Kleinkindes begibst, dann siehst du, dass der Weg weit ist. Wenn du dich auf ein Fahrrad setzt und im Stadtverkehr fährst, dann merkst du, wie wichtig vorausschauendes Fahren und Rücksichtnahme eines Autofahrers sind. Wenn du mit deinem pubertierendem Teenager Fußball spielst, dann erlebst du, welch großartige Gedanken in ihm stecken.

Es gibt viele „Wenn“, die darauf warten, aus einer anderen Perspektive betrachtet zu werden.

Ein ukrainisches Sprichwort sagt: „Du siehst nicht wirklich die Welt, wenn du nur durch dein eigenes Fenster siehst.“

In diesem Sinn wechsele ich jetzt gern meinen Stammplatz mit einem anderen Platz am Tisch, denn ich möchte die Welt und die Menschen, die mir darin begegnen, neu sehen, neu entdecken und neu wertschätzen.

Machst du mit?

Quellenverzeichnis

Bild von Michael Murphy über Pixabay