Macht „Glauben“ gesund? Eine Standortbestimmung

Im Sprechzimmer…

Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Arzt – vielleicht bei einer Vorsorgeuntersuchung, vielleicht auch im Krankheitsfall – Sie unvermittelt fragen würde, wo Sie Hoffnung schöpfen, Kraft, Trost und inneren Frieden finden können? Was, wenn er nicht nur nach Ihrer Religionszugehörigkeit fragen würde, sondern auch danach, wie wichtig Ihnen diese ist und welche Aspekte Ihrer Religion Sie als eher hilfreich, welche als weniger hilfreich erleben? Würden Sie gerne mit ihm über Ihre ganz persönlichen Überzeugungen sprechen? Darüber, ob Sie an Gott glauben oder nicht, ob Sie beten, meditieren, die Bibel oder ein anderes heiliges Buch lesen, an Gottesdiensten teilnehmen oder lieber wandern gehen, Zeit in der Natur verbringen oder malen? Wären Sie erstaunt, wenn Ihr Arzt wissen möchte, welchen Einfluss Ihre persönlichen Glaubensüberzeugungen auf medizinische Behandlungen oder Entscheidungen im Bereich des Lebensendes ausüben könnten?

… über „Glauben“ reden?

Vielleicht wären für Sie solche Fragen etwas befremdlich. Religion wird ja heute zunehmend als Privatsache angesehen. Aber gerade die letzte Frage lässt verstehen, wieso die amerikanische Akademie für Familienmedizin ihren über 100‘000 Mitgliedern bereits 2001 empfohlen hat, mit solchen und ähnlichen Fragen eine «spirituelle Anamnese» zu erheben. Die ganz persönlichen religiös-spirituellen Überzeugungen, das, was ein Mensch glaubt oder nicht glaubt, hat einen Einfluss auf seine Gesundheit, auf sein Gesundheitsverhalten und auch auf Therapieentscheide und -verläufe. Deshalb greift eine Medizin zu kurz, welche, wie seit Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts oft gemacht, den Menschen bloß als biopsychosoziales Wesen versteht und dabei verkennt, dass er auch ein geistlich/spirituelles Wesen ist.

Ein weltweites Phänomen

Dass ein Zusammenhang zwischen «Glauben» und unserer Gesundheit besteht, erschließt sich nicht nur aus der Geschichte, sondern auch aus dem Selbstverständnis der Religionen, ganz besonders des jüdisch-christlichen Glaubens. Inwieweit und in welcher Richtung der Einfluss des Glaubens auf die Gesundheit geht, ist seit einigen Jahrzehnten zunehmend Gegenstand medizinischer Forschung. Die meisten Studien sind bisher in den Vereinigten Staaten an einer vorwiegend christlichen Bevölkerung durchgeführt worden. Eine wachsende Anzahl Studien stammt aber auch aus anderen Ländern, und es werden zunehmend auch Untersuchungen mit Menschen anderer religiöser Traditionen durchgeführt. Eine große Studie mit älteren Menschen in den USA ergab, dass im Monat vor religiösen Feiertagen weniger Menschen verstarben als im Monat danach. Dieses Phänomen wurde bei Juden und Christen beobachtet, allerdings für Christen nur bei christlichen Feiertagen, bei Juden nur bei jüdischen. Etwas Ähnliches ist in Israel beobachtet worden, wo die Sterberate vor dem Wochenende abnimmt und am Sabbat (Samstag) am geringsten ist. Allerdings ist dieses Muster bei den in Israel lebenden Arabern nicht nachweisbar.

Kann man den Glauben messen?

Was ist der Glaube überhaupt? Ist Glaube messbar? Glaube ist etwas sehr Komplexes und betrifft den Menschen auf der Ebene des Denkens, des Fühlens, des Wollens, des Handelns und in seinen sozialen Beziehungen. Persönlicher Glaube ist leider nicht so einfach messbar. Die Forscher weichen deshalb oft auf messbares Verhalten aus – wie z. B. die Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs oder des Gebets oder auf persönliche Einschätzungen (Wie wichtig ist Ihnen Ihr Glaube? Für wie spirituell sehen Sie sich?). Wenn «Glaube» wirkt, sollte man dann nicht auch wissen, «wie» er wirkt? Was genau wirkt? Es müssten verständliche Modelle entwickelt werden. Wirkt er immer zum Guten, also in Richtung Gesundheit, oder kann er auch krank machen? Viele Fragen waren und sind noch offen. Einiges scheint aber bereits geklärt.

Was sagt die Wissenschaft?

Bis 2010 sind über 2800 Studien veröffentlicht worden, welche die Beziehung von Religiosität, Spiritualität und Gesundheit untersuchten. Prof. Harold Koenig von der Duke Universität hat sich gemeinsam mit anderen Forschern die Mühe gemacht, alle diese Arbeiten zu sichten, nach ihrer wissenschaftlichen Qualität zu bewerten und ihre Ergebnisse zusammenzufassen. Diese haben sie im «Handbuch über Religion und Gesundheit»1 publiziert. Insgesamt findet sich dabei in über 1800 Studien, also in mindestens 2 von 3 Studien (>66 %), eine bedeutsame positive Beziehung zwischen spirituell- religiösem Engagement und besserer körperlicher oder seelischer Gesundheit (vgl. Tabelle 1). Bei einigen Studien ist überhaupt keine Beziehung zwischen Glauben und Gesundheit zu beobachten. Nur bei einer kleinen Minderheit von Studien findet sich eine gegenteilige Assoziation, nämlich bei 4 % mit einer schlechteren seelischen und bei 8,5 % mit einer schlechteren körperlichen Gesundheit. Oft handelt es sich dabei um sogenannte Querschnittsstudien, also Untersuchungen, wo die gewählte Stichprobe nur einmal befragt wird und nichts über einen ursächlichen Zusammenhang einer gefundenen Beziehung ausgesagt werden kann. Da im Krankheits- oder Krisenfall auch Menschen, denen der Glaube normalerweise wenig bedeutet, auf Gebet und andere religiös-spirituelle Verhaltensmöglichkeiten zurückgreifen, ergeben sich bei diesen Studien oft negative Zusammenhänge, die nicht ursächlich sind.

Glaube schützt das Herz …

Die koronare Herzkrankheit, also die Verengung der Herzkranzgefäße, die schließlich zum Herzinfarkt führen kann, ist bei uns eine häufige Krankheit und auch die häufigste Todesursache. Bisher haben 19 Studien den Zusammenhang zwischen Religiosität / Spiritualität und dem Auftreten dieser Erkrankung untersucht. Davon haben 12 Studien (63 %) im Gesamtergebnis oder zumindest in einer Untergruppe ein signifikant selteneres Vorkommen gefunden. Bei 5 Studien (26 %) fand sich kein Zusammenhang, und bloß bei je einer Studie (je 5 %) war das Ergebnis entweder komplex oder es wies auf ein häufigeres Auftreten der Erkrankung hin. Andere Untersucher haben festgestellt, dass (intrinsische) Religiosität und auch Interventionen wie z.B. Meditation meistens (in 63 % der durchgeführten Studien) mit besseren Resultaten nach herzchirurgischen Eingriffen in Beziehung stehen. Diese positiven Ergebnisse stimmen mit vielen anderen Untersuchungen überein, die zeigen, dass eine umgekehrte Beziehung zwischen religiösem Engagement und den meisten anerkannten beeinflussbaren Risikofaktoren für Herzkrankheiten besteht. Das heißt: Je religiöser ein Mensch ist, desto geringer sind im Durchschnitt seine Risikofaktoren wie z. B. Zigarettenrauchen, Bluthochdruck, hohes Cholesterin, Entzündungszeichen, körperliche Inaktivität (Bewegungsmangel), hoher Alkoholkonsum, ungünstige Ernährung, psychosozialer Stress, geringer Optimismus, hohe Feindseligkeit, Angst und Depression.

 … reduziert das Krebsrisiko

Krebs ist eine weitere häufige Erkrankung, wo ein günstiger Einfluss des praktizierten Glaubens beschrieben wird, auch wenn dieser etwas weniger stark ausfällt als bei den Herzkrankheiten. Insgesamt weisen 17 (61 %) von 28 Studien auf ein selteneres Auftreten, günstigere Verläufe wie auch ein reduziertes Sterberisiko hin. Besonders ausgeprägt findet sich dieser Effekt bei religiösen Gemeinschaften, die bewusst einen gesunden Lebensstil pflegen, wie z. B. den Siebenten-Tags-Adventisten. Ein Teil des günstigen Effekts ist dabei bedingt durch die gesunde Ernährung und den Verzicht auf Zigaretten, Alkohol und gefährliche Sexualpraktiken. Zusätzlich spielt eine bessere Funktion des Immunsystems eine Rolle, bedingt durch weniger Depression, besseren Umgang mit Stress und größere soziale Unterstützung. Studien weisen darauf hin, dass an Krebs Erkrankte häufig auf Spiritualität und religiöse Praxis zurückgreifen, um die Krankheit zu bewältigen. Ihr Glaube hilft ihnen, sich besser an die veränderten Umstände anzupassen. Er spendet Hoffnung und lässt sie weniger Angst und Schmerzen erleben, was sich wiederum auf hormonelle und immunologische Funktionen positiv auswirken und die Tumorausbreitung vermindern kann.

 … und verlängert das Leben

82 (68 %) der bisher mindestens 120 Studien, welche die Beziehung zwischen dem Ausmaß religiösen Engagements und der Sterblichkeit untersucht haben, weisen auf ein längeres Leben hin. Wenn nur die besten Studien in die Analyse einbezogen werden, steigt dieser Anteil auf 76 %. Wenn als Kriterium für Religiosität die Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs mitberücksichtigt wurde, wird dieser Zusammenhang gar in 92 % der durchgeführten Studien gefunden. Die Häufigkeit der Teilnahme am Gottesdienst ist das wohl bestuntersuchte Einzelkriterium. Mehr als 100 Studien haben gezeigt: Je häufiger Menschen eine Kirche oder ein anderes Haus der Anbetung aufsuchen, desto geringer ist ihr Sterberisiko. Eine USA-weite Untersuchung mit über 21‘000 Erwachsenen ergab für diejenigen, die nie an Gottesdiensten teilnehmen – im Vergleich mit den wöchentlichen Besuchern – ein fast doppelt so hohes Risiko, im Verlauf von 8 Jahren zu versterben. Dieses Muster ist bei verschiedenen Krankheiten nachweisbar, am deutlichsten bei Herzkreislauferkrankungen. Eine wöchentliche Teilnahme trägt zu 37 % zur größeren Überlebenswahrscheinlichkeit bei. Dieser Effekt ist vergleichbar mit demjenigen von medizinischen Standardbehandlungen wie z. B. dem Einsatz von Cholesterinsenkenden Medikamenten in der Rehabilitation von Herzkrankheiten.

Keine Glaube auf Rezept

Wenn der Glaube solch ausgeprägte Auswirkungen hat, sollte er dann nicht von Ärzten quasi per Rezept verschrieben werden, damit möglichst alle Menschen davon ihren Nutzen ziehen? Fachleute sind sich darin einig, dass dies zu unterlassen ist, denn bestimmte Formen des Glaubens können auch negative Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden haben. Unter gläubigen Menschen kann man mindestens zwei Gruppen unterscheiden: Solche, die sich auf Innerliches (intrinsisch Motivierte) und solche, die sich auf Äußerliches (extrinsisch Motivierte) konzentrieren. Im Zentrum des tiefverwurzelten, authentischen Glaubens der intrinsisch Motivierten steht die Anbetung (des transzendenten) Gottes. Oft führen sie ein konsequentes geistliches Leben, beten und lesen täglich in der Heiligen Schrift und zeichnen sich durch Bescheidenheit und Güte aus. Extrinsisch motivierten Menschen geht es mehr um sekundäre Vorteile des Glaubens wie Status, Positionen in der Gemeinschaft, Macht, Einfluss, Gesundheit, sexuelle Gunst und anderes. Obschon sie sich bemühen, die sichtbaren und messbaren Vorschriften ihrer jeweiligen Tradition zu erfüllen, lässt sich ihr Herz dennoch nicht auf eine wirklich tiefe Beziehung mit Gott ein. Heute wissen wir, dass sich eine solche extrinsische Motivation und ein sogenannt negatives religiöses Coping schädlich auf die Gesundheit und Lebensqualität auswirken. Unter religiösem Coping versteht man den Einbezug der Religion zur Bewältigung von Lebensschwierigkeiten. Negatives religiöses Coping ist geprägt durch ein negatives Gottesbild und einen angstbesetzten Glauben an einen bösen, strafenden Gott (anstatt an einen liebenden Erlösergott) und durch Gefühle, von Gott bestraft zu werden oder von ihm verlassen zu sein.

Wir wirkt der Glaube?

So komplex wie der Glaube ist, so komplex ist auch seine Wirkung. Professor Harold Koenig beschreibt einerseits Auswirkungen auf das Fällen von günstigen Entscheidungen, auf die Wahl eines gesundheitsfördernden Lebensstils, die Entwicklung gesunder Verhaltensweisen, die höhere Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen und eine bessere Compliance (Befolgen der Behandlungsrichtlinien) im Erkrankungsfall. Wahrscheinlich ebenso wichtig ist die Förderung von psychologischen Tugenden wie Vergebungsbereitschaft, Ehrlichkeit, Mut, Selbstdisziplin, Altruismus (durch Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk und Handlungsweise), Demut, Dankbarkeit, Geduld und Zuverlässigkeit, was sich nicht nur dahingehend auswirkt, dass die sozialen Beziehungen gestärkt werden, sondern auch mehr positive und weniger negative Emotionen erlebt werden (vgl. Tabelle 2). All dies begünstigt das Immunsystem, die Wirkung der Hormone und die Herzkreislauffunktion, was letztlich zu guter Gesundheit und Langlebigkeit führt.

Fazit

Aufgrund der Datenfülle fällt es meines Erachtens heute leicht, sich der Beurteilung von Dr. med. Dale A. Matthews anzuschließen, der bereits vor 15 Jahren festgehalten hat, dass „kein Wissenschaftler mit den üblichen wissenschaftlichen Beweisverfahren schlüssig beweisen kann, ob es Gott gibt oder nicht. Doch die gesundheitlich positiven Auswirkungen des Glaubens eines Menschen an Gott lassen sich messen und sind gemessen worden, und sie führen wissenschaftlich schlüssig vor Augen, dass Glaube und religiöse Praxis dazu beitragen, die Gesundheit zu erhalten, die Genesung zu beschleunigen und das allgemeine Wohlbefinden des Menschen zu steigern.“

Dr. med. Ruedi Brodbeck

Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM, Diplom für Biblische Theologie und Pastoralarbeit

Leben & Gesundheit Ausgabe 2/2015