Priorität ICH: Was stärkt das Bewusstsein meiner Einzigartigkeit?

«Es ist Zeit, mich einmal um mich selbst zu kümmern.» Das dachte wohl auch die Tiermedizin-Studentin Elysa (26), als sie von ihrem Freund verlassen wurde. Ich stolperte neulich über ihre Erfahrung in einer Zeitschrift. Sie litt unter der Trennung, gleichzeitig unter den stressigen Anforderungen der Universität. Ihr neues Hobby war dagegen wie Balsam für die müde Seele: Sie hatte sich einen Instagram-Account zugelegt und ziemlich schnell über 500 Follower gewonnen. Täglich postete Elysa ihre Bilder und Ideen, träumte davon, ein Internet- Star zu werden und eines Tages durch die Welt zu reisen, um auf Tierschutzthemen aufmerksam zu machen. Sie taten ihr gut – die Likes, Herzchen und begeisterten Kommentare von Menschen, die sie für das hielten, was sie ihnen präsentierte: eine aktive, lebenslustige Frau.

Doch die Erfüllung währte nicht lange. Bald fiel ihr unangenehm auf, wenn andere noch mehr Herzchen und Kommentare erzielten. Bald blieb für reale Menschen wenig Energie übrig. Elysa schwänzte Vorlesungen und verlor ihren Nebenjob, weil sie zu oft auf ihr Handy schielte. «Ich bin irgendwann gar nicht mehr hinausgegangen», erzählt sie, «habe den ganzen Tag im Schlafanzug verbracht und mich nur noch geschminkt, wenn ich Selfies fürs Internet geschossen habe.» Statt einzigartiger fühlte sie sich immer einsamer. Ihre «Selbstverwirklichungs-Phase» machte sie von Tag zu Tag leerer. (Stern Magazin 51/2018)

Selbstfindung als Lebensziel?

Mit Sicherheit ist Elysas Geschichte ein drastischer Fall, aber nicht unbedingt ein einzelner. Die eigenen Wünsche zur absoluten Priorität erklären, die eigenen Fähigkeiten entdecken – das kann für vernachlässigte Menschen eine stärkende Erfahrung sein. Aber taugt es als Lebensmotto? Soll ich all den aktuellen Achtsamkeits-Magazinen glauben, die mich zu einem nachsichtigeren Umgang mit mir selbst aufrufen und mich einladen, den «tollsten Menschen der Welt kennenzulernen»: nämlich mich?

Die Psychologin Jean M. Twenge veröffentlichte vor einigen Jahren ihre Studien zur Lebensart der heute 20-40-jährigen Amerikaner. Der vielsagende Untertitel: «Warum diese Generation selbstbewusster, anspruchsvoller, durchsetzungsfähiger – und unglücklicher ist als je zuvor.»

Schon diese Beschreibung lässt mich befürchten, dass Menschen, die wissen, wer sie sind, was sie wollen und wie sie es kriegen, noch lange nicht zufriedener sind. Priorität ICH: Funktioniert das? Welche Rolle spielt mein Selbst auf der Suche nach Lebensglück? Eine berührende Antwort auf diese letzte Frage entstammt einer Geschichte aus der Feder des deutschen Dichters Hermann Hesse und trägt den Titel «Augustus». Darin wird eine junge, mittellose Witwe mit ihrem Neugeborenen von einem alten Männlein aufgesucht, das ihr ein außergewöhnliches Angebot macht: «Du hast einen Wunsch für das Leben deines Sohnes frei, der mit Sicherheit in Erfüllung gehen wird.» Fieberhaft überlegt die Frau, was ihren kleinen Augustus dauerhaft froh machen könnte. Reichtum? Klugheit? Begabung?

Was würde ich einem geliebten Menschen für sein Lebensglück wünschen?

Schließlich flüstert sie: «Ich wünsche dir, dass alle Menschen dich liebhaben.» Ja, wie viel leichter und wärmer ist das Leben, wenn man Liebe erfährt! Die Bitte der Mutter wird tatsächlich wahr: Augustus verlebt eine traumhafte Kindheit, jeder ist ihm zugetan, überall ist er willkommen. Im Heranwachsen merkt die Mutter allerdings, dass ihr Sohn beginnt, die vielfache Zuwendung selbstverständlich zu nehmen. Er lässt Kameraden links liegen und sucht immer neue Eroberungen. Als Erwachsener wird er von allen Männern geehrt und von den Frauen umworben. Aber er weiß Freundschaft nicht mehr zu schätzen, lebt habgierig, verführerisch und beutet ahnungslose Menschen aus. «Von der Liebe klang nichts in seiner Seele wider … er fühlte den Unwert seines vergeudeten Lebens, das nie gegeben und immer nur genommen hatte.»

Als Augustus – angeekelt von sich selbst – beschließt, sich umzubringen, erscheint das alte Männlein noch einmal und bietet ihm an, ihm einen neuen Wunsch zu erfüllen, der ihn doch noch glücklich machen könnte. Nach langem Überlegen stottert Augustus:

«Verleihe mir die Fähigkeit, alle Menschen lieb zu haben.»

Von da an verändert sich seine Situation drastisch. Der alte Wunsch ist nicht mehr wirksam, dadurch wird Augustus zum ersten Mal in seinem Leben angefeindet und abgelehnt. Liebe schlägt in Hass um, alte Freunde rächen sich für vergangenes Unrecht. Seine neu geschenkte Fähigkeit gibt ihm jedoch die Möglichkeit, in jeder Person etwas Gutes zu sehen. «Die furchtbare Leere und Einsamkeit, in welcher er mitten in seinem prächtigen Leben erstickt war, die hatte ihn ganz verlassen. … Ihn freute der Anblick eines jeden Menschen … und alle waren seine Brüder und Schwestern.» Augustus findet in seinem unscheinbaren Dasein eine unerwartete Erfüllung, indem er sich mit kleinen Aufmerksamkeiten an bedürftige Menschen richtet. Am Ende seines Lebens findet er «die Welt durchaus herrlich und liebenswert.»

Auf geniale Weise spielt Hermann Hesse hier zwei extreme Lebensrichtungen gegeneinander aus:

Der, der überall Liebe findet, findet kaum Glück. Und der, der kaum Liebe erfährt, erfährt dennoch überall Glück. Wie ist das möglich? Weil der erste keine Augen für seine Umwelt hat, während der zweite sich voll auf sie einlässt und sich verschenkt. Das würde bedeuten: Der wichtigste Faktor, der über ein zufriedenes oder unerfülltes Leben entscheidet, ist unsere Fähigkeit zu lieben. Ist das nur im Märchen so?

Was sagt die Glücksforschung?

In Langzeit-Studien hat sich bisher bestätigt: Die Zufriedenheit, die ein Mensch empfindet, hängt nicht von seinen Umständen ab, sondern pendelt sich auch nach einschneidenden Ereignissen (wie Lottogewinn oder Krebsdiagnose) immer wieder auf «sein» individuelles Maß ein. Beim Glücksempfinden kommt es tatsächlich auf die Einstellung zu sich selbst und zu anderen an. Viktor Frankl, ein bedeutender Wiener Arzt, war nach lebenslanger psychotherapeutischer Tätigkeit überzeugt: «Das wahre Ziel des Menschseins weist immer über das ICH hinaus auf etwas anderes oder jemand anderen. Menschen sind darauf angelegt, für einen größeren Sinn als sich selbst zu leben.»

Selbstfindung im Selbstvergessen?

Das lässt mich darüber nachdenken, was mir in meinem Leben am deutlichsten gezeigt hat, dass ich wertvoll und einzigartig bin. Es waren nicht unbedingt die Momente, die mir den größten Genuss oder den größten Applaus einbrachten, sondern Umstände, in denen jemand anderer durch meinen Einsatz profitierte: Die 80-jährige Dame, für die ich als 7-Jährige ein Mäuschen auf die Geburtstagskarte malte. Die Kinder, die auf dem Zeltlager atemlos meinen Gute-Nacht-Geschichten lauschten. Die verzweifelte Freundin, der ich eine halbe Nacht lang zuhörte. Der Badezimmerspiegel, den ich jede Woche für meine Familie blank wische.

Stimmt. In solchen Erlebnissen bekomme ich jedes Mal eine viel klarere Antwort auf die Frage, wer ich bin, als mir ein Blick in den Spiegel je verraten könnte. Ist das nicht paradox? Nicht das stärkt unser ICH, was wir für uns selbst tun. Nicht das, was wir tun, um beachtet zu werden, sondern das, was wir auch unbemerkt tun, weil es über uns hinaus Sinn macht.

Zuerst geliebt.

Bleibt noch eine Frage: Was aber gab mir überhaupt erst den Mut, etwas nach außen zu geben? Mich jemand anderem zuzuwenden? Ja, da waren Menschen, die mir das zutrauten. Sie (Eltern, Lehrer, Freunde) hatten unter anderem mich zur Priorität erklärt, und dadurch musste ich mich nicht allein auf mich selbst fixieren. Ich war frei, den anderen den Vorrang einzuräumen.

Wenn ich persönlich ganz ehrlich zurückblicke, sehe ich, dass meine Selbstbezogenheit und meine Selbstsuche erst richtig zur Ruhe kamen, als ich erfuhr, dass der Größte mich schon gefunden hatte: Gott. Nichts hat mein Leben so stabilisiert, nichts mich so mit mir versöhnt und offen für andere gemacht wie dieses Bewusstsein. Nicht umsonst sagt der Evangelist Johannes: «Wir (können) lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.» (1. Johannes 4:19)

«Es wird Zeit, mich einmal um etwas anderes zu kümmern.»

Das sagte sich übrigens auch Elysa, die 26-jährige Tiermedizin- Studentin aus der Anfangsgeschichte. Eines Tages löschte sie ihren Social- Media-Account, nahm Abschied von 520 digitalen Fans und entschloss sich, über den Sommer auf einen Bauernhof zu ziehen, um sich dort einer Herde Pferde anzunehmen. Sie gabelte Mist, mischte Spezialfutter und beschnitt kranke Hufe. Niemand sah ein Foto, niemand gab sein Like dazu. Trotzdem spürte Elysa sich selbst unter dem vertrauensvollen Blick ihrer schnaubenden Patienten. Und ganz unbemerkt begann sie, sich wieder zu mögen.

Judith Fockner

Fernsehmoderatorin, Autorin, Religionspädagogin und Mutter

Leben & Gesundheit Ausgabe 3/2019