Hier stehe ich …

1. Ich kann nicht anders!

Je genauer ich das Miteinander, Nebeneinander, Auseinander und Durcheinander der Menschen beobachte, desto mehr fallen mir jene Persönlichkeiten auf, die für etwas stehen, fest stehen und einstehen; also Charaktere, deren Worte und Taten übereinstimmen. Diese Menschen machen mir Mut, vermitteln Orientierung und strahlen – trotz äußerer Spannungen und Herausforderungen – innere Ruhe und Gelassenheit aus. Solche Persönlichkeiten können mit wenigen Worten glaubhaft große Zusammenhänge formulieren, weil ihre ursprüngliche Körpersprache einen stabilen Unterbau bildet und Vertrauenswürdigkeit ausstrahlt. Sie denken nicht nur an das Hier und Heute, sondern verweben Vergangenheit und Zukunft mit verantwortungsvollem Handeln in der Gegenwart. Dies wiederum führt dazu, sich selbst und anderen ohne Scheu in die Augen schauen zu können.

Mich haben Lebensberichte von Dietrich Bonhoeffer, Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Viktor Frankl schon immer fasziniert, weil sie allesamt in herausfordernden Zeiten zu Orientierungs-wegweisern geworden sind.

Anlässlich des 500-jährigen Reformationsjubiläums begegnen wir dem Mönch Martin Luther, der trotz großen Widerstands, angsteinflößender Umstände und lebensbedrohlicher Ereignisse beim Reichstag zu Worms (1521) klar ausdrückt, wofür er steht und weshalb er so und nicht anders handeln kann. Selbst wenn die Worte «Hier stehe ich, ich kann nicht anders» historisch nicht belegt sind, drückt Luthers integre Grundhaltung mit ihren entsprechenden Entscheidungen eben jene Einstellung aus.

2. Ich kann auch anders!

Jeder von uns kennt sie. Ich meine Umstände, in denen wir uneingeschränkt herausgefordert werden – im Sinne von Viktor Frankl – «so oder so (also anders) » zu entscheiden. Reagiere ich auf eine unfreundliche Bedienung pikiert und lasse mein weiteres Verhalten davon bestimmen oder bleibe ich einer freundlichen in mir innewohnenden Entscheidung treu? Beantworte ich verletzende Kritik in ebensolch herabwürdigender Weise oder kann ich ANDERS reagieren? Besonders deutlich spüren wir es, wenn uns der äußere Druck der Gesellschaft, einer Gruppe oder der Familie zu schaffen macht. Wir fühlen uns in eine Richtung gedrängt, und ANDERS als erwartet zu handeln, kostet viel.  Aber auch innerer Druck kann uns verleiten, durch entsprechende Machenschaften persönlichen Gewinn zu erzielen. Es stimmt zwar: «Allen Leuten recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann! » Das jedoch ist kein Freibrief für persönliches Fehlverhalten. Jeder weiß heute, dass die Infektionsgefahr der Korruption ein sehr aggressiver moralischer Virus ist, der selbst geradlinigen Personen zusetzen kann und darauf abzielt, das Gewissen zu durchlöchern. Martin Luther machte in seiner einfachen Antwort beim Reichstag zu Worms deutlich: «Mein Gewissen ist an das Wort Gottes gebunden! ». Etwas für ihn Größeres und Maßgebenderes gab ihm die Kraft, sich nicht verbiegen zu lassen. Jeder ist während seines Lebens immer wieder neu gefordert, so oder so zu handeln. Die Entscheidung treffen letztlich immer wir.

3. Ich mag nicht anders!

Neulich fragte ich jemanden, der in beruflichen Schwierigkeiten steckte, wie es ihm so gehe? Seine Antwort klang niedergeschlagen: «Wie die anderen es wollen!». Ich fragte zurück: «Und wie willst du es?». Er antwortete etwas verzögert: «Ich weiß es nicht!» Inmitten einer Lebenskrise fühlte er sich seinem Umfeld hilflos ausgesetzt. Sein Werte-Kompass war funktionsuntüchtig geworden. Das Empfinden der eigenen Schwachheit ließ ihn einfach nur mehr so funktionieren, wie andere es wollten. Die Lebensfreude war unterwegs verloren gegangen, und seine eigene Entscheidung, anders zu wollen, war der gefühlten Sinnlosigkeit zum Opfer gefallen. Enttäuschung und Groll überwuchern gewollte Alternativen.

«Ich mag nicht anders» kann jedoch auch genau das Gegenteil bedeuten. Wer der Integrität einen hohen Wert beimisst, dem geht es nicht um Eigennutz, sondern immer um einen gesunden Ausgleich zwischen dem eigenen Wollen und den Interessen anderer. Diese Balance ohne Manipulation zu erreichen und ohne sich selbst zu «verkaufen» oder seine Werte zu «verraten» ist Lebenskunst. Dabei spielt persönliche Standhaftigkeit eine entscheidende Rolle – unabhängig von äußeren Umständen. Wer so agiert, nützt die Hilflosigkeit anderer nicht aus, sondern richtet sein Gegenüber vielmehr auf, um in Augenhöhe miteinander zu reden, zu planen, zu wirken oder auch auseinanderzugehen – aber korrekt, sich selber treu.

Zu dieser Grundhaltung komme ich jedoch nur, wenn ich vorher eine ehrliche Auseinandersetzung mit mir selber, meinen Werten und Prinzipien zugelassen habe. Erst danach kann ich sagen: «Hier stehe ich, ich mag nicht anders!» Dann ist es für mich stimmig, und ich fühle mich in mir selbst zu Hause, selbst wenn die Lebenswegstrecke mir momentan viel abverlangt.

4. Du darfst vertrauen

Integrität ist mehr als ein gängiges Schlagwort. Sie ist nur dann echt, wenn dabei eine möglichst weitgehende Übereinstimmung zwischen eigenen Idealen und Werten und der tatsächlichen Lebenspraxis sichtbar wird. Die anderen sollen sich auf meine Zusagen verlassen können. Ich möchte ihr Vertrauen nicht enttäuschen oder ausnützen. Und wenn es dennoch zum Fehlverhalten kommt – schließlich gibt es niemanden, der fehlerlos ist – dann gehört die ehrliche Entschuldigung zum nahen Umfeld der Integrität. Das Beziehungskonto zwischen Menschen wird dadurch sogar gestärkt. Bedeutende und tiefe Beziehungen zu anderen Menschen – ob zu Hause, unter Freunden oder an der Arbeitsstelle – können nie auf Basis fehlender Integrität aufgebaut werden.

Da wir heutzutage so oft hinters Licht geführt, getäuscht und ausgenützt werden, ist Misstrauen unser ständiger Begleiter. Hochglanzprospekte, Retuschen, mehr Schein als Sein verunsichern und machen uns dadurch buchstäblich zu chronischen Zweiflern.

5. Mehr als Eindruck hinterlassen

Das «Selfie» legt seit 2004 eine sensationelle Karriere hin. Je besser die Qualität der zweiten Kamera in Smartphones und Tablets wird, desto größer ist auch die Überflutung unserer sozialen Medien. 2013 hat das «Oxford English Dictionary» den Begriff «Selfie» zum Wort des Jahres gekürt. Der Blick auf die Straßen und Plätze genügt: Die Sucht nach einem gelungenen Selfie, welches augenblicklich den Weg über die sozialen Netzwerke an unzählige Empfänger antritt und um ein «geliked» schier bettelt, ist allgegenwärtig. Seit dem Selfiestab – dem verlängerten Arm – werden Stadtspaziergänge oftmals zum Straßenslalom. Es entsteht ein immer stärkerer Drang, nichts auszulassen, was anderen digital mitgeteilt werden kann.

Im Internet begegnen wir immer öfter der Ausdrucksform, mit der User reagieren, wenn jemand mit einer Sache prahlt: «Pics or it didn´t happen» (mach ein Foto oder es ist nicht geschehen). Egal, ob jemand behauptet, er sei gerade in seinem Kenia-Urlaub auf einer Safari oder esse momentan mit Freunden eine Pizza auf dem Markusplatz in Venedig – solange es kein «Beweisbild» gibt, ist ihm nicht zu glauben. Selfies sind der schnellste Weg, uns und unser Leben in den virtuellen Raum zu tragen. Manchmal werden wir dadurch auf eine digitale Existenz reduziert. Der Weg zum Erfolg führt immer mehr über kreative und aufwendige – manchmal sogar gefährliche – Selbstinszenierungen, nicht selten verbunden mit ausgelebter Peinlichkeit bis zur wortwörtlichen Selbstentblößung. «Viele würden sich erschrecken, wenn sie statt ihres Gesichts ihren Charakter im Spiegel sehen würden.» Dieses Internetzitat bringt es auf den Punkt. Der Hunger nach Anerkennung, das Übermalen der inneren Leere sowie das unkritische Nachahmen fragwürdiger Berühmtheiten lassen Menschen ihre kostbare und einzigartige Persönlichkeit wegwerfen. Ein Original, das jeder Mensch fraglos gerne sein möchte, findet sich nicht in der Masse, nicht im Mainstreamdenken und auch nicht im Nachplappern und unkritischen Übernehmen populistischer Aussagen.

Gefragt: Wahre Menschen

Heute wie früher, jetzt wie in der Zukunft sind Menschen gefragt, die sich selbst kennen, sich annehmen, die um ihren Wert und ihre Einzigartigkeit wissen, ohne dabei abzuheben. Echtzeit-Menschen wissen, wofür sie stehen, was ihnen wichtig und wertvoll ist. Weil es Mut, Kraft, Entscheidungswillen und Durchhaltevermögen braucht, um dem Mainstream standzuhalten, hinter die Kulissen zu schauen, dagegenzuhalten und festzustehen, richte ich mich täglich neu aus. Mein Wertekompass soll stimmen. Ich entscheide mich dafür. Wer mir begegnet, soll auf einen Menschen treffen, bei dem Reden und Tun übereinstimmen. Hier stehe ich – so bin ich, so denke ich, so fühle ich – INTEGRITÄT.

Günther Maurer

Gesundheitsberater, Führungskraft

Leben & Gesundheit Ausgabe 5 /2017